01.06.2022

Ich habe turbulente Tage hinter mir, die allerdings dazu führten, dass ich theoretisch bis Mitte 2024 keinen einzigen turbulenten Tag mehr bräuchte, und ich denke, mehr gibt es beruflich nicht zu erreichen während Pandemie und Krieg. Also konnte ich heute Mittag ein wenig Ablage machen und dabei die Haushaltsdebatte so halb verfolgen, und dabei wurde ich ein bisschen traurig. Ist es nicht schade, dass jemand, der ein ganzes Land führt, schlechter vom Blatt lesen kann als mein 13jähriges Kind? Und ist es nicht noch viel schader, dass eine Frau, die eine Ork-Truppe Nazis anführt, mit großem Verve schmissig formuliert, dass es, wenn man gerade Ablage macht und daher entscheidet, dem Inhalt nicht zu folgen wegen nicht wichtig, ein wahre Freude ist, einfach nur dem reinen Geräusch zu lauschen? Ich kann jedenfalls abschließend sagen: Wenn ich am Schreibtisch sitze und mich halbkonzentrieren muss, dann möchte ich lieber Alice Weidel hören als Olaf Scholz. Interessanterweise stelle ich fest, dass ich zum Beispiel Friedrich Merz weder halb noch ganz noch gar nicht konzentriert hören möchte. Da hilft auch die neue Brille nicht, die ihm einen sympathischen Touch verleihen soll. Keinesfalls möchte ich aber von – wenn wir uns mal auf diese Auswahl an Akteur*innen beschränken – irgendjemand anderem als Olaf Scholz regiert werden, und vielleicht auch von ihm nur widerwillig, aber so viel steht fest: Ob er schmissig Reden halten kann oder nicht, ist für mich politisch völlig unerheblich. Und ich sehe natürlich, dass diese Einstellung ganz viele Faktoren außen vor lässt. Wie sollen sich denn die allermeisten Deutschen ein Bild machen, wenn alle in Minute 2 ein jeder Rede einschlafen? Von dem, was er macht etwa? Da haben wir ja an manchen Stellen, Krieg zum Beispiel, das Problem, dass nicht jeder Schritt kleinklein in irgendeiner Talkshow abends direkt stolz erzählt werden kann, das geht also schon mal nicht. 1×2 Meter Schecks an wohltätige Organisationen überreichen funktioniert leider nur in der Lokalpolitik. Es ist ein Dilemma.

Manchmal erwische ich mich ja dabei, dass so ein Politiker mir so furchtbar unsympathisch ist, dass mir vollkommen egal wäre, wenn er eine Alpaka-Rettungsstation in seiner Freizeit leiten würde. Da ich ja nur eine einzige kleine Stimme habe in so einer Wahl, lasse ich mir das immer durchgehen, und manchmal geht es sich dann sehr schön aus und am Ende stellt sich heraus, wie fürchterlich die Person wirklich ist. Spontan fallen mir drei ein, alles Herren (wir wollen ja hier nicht von Jutta von Ditfurth sprechen). Der erste war Gerhard Schröder, der mir während seiner Kanzlerschaft einfach durchweg unsympathisch war, auf ganz persönlicher Ebene, und der sich dann ja, langjährige Leser*innen werden sich erinnern, in der Elefantenrunde nach der Bundestagswahl 2005 so furchtbar schlecht benahm, dass mein Vater beim Gucken nicht einen sprichwörtlichen, sondern eine buchstäblichen Herzinfarkt bekam. Danach mochte ich ihn noch weniger, und naja, ich erinnere an das Foto seiner betenden Frau, den Rest kennen Sie alle, ich habe mich nicht getäuscht. Der zweite, den ich immer einfach nur doof fand, egal, was er sagte, war Paul Ziemiak, ganz alte Menschen erinnern sich noch an den ehemaligen CDU-Generalsekretär. Dem gelang es, mich von meinem Vorurteil umfänglich zu überzeugen, als er im Wahlkampf 2021 irgendwann an irgendeiner Stelle ganz leise und ehrfürchtig wurde und flüsterte, Deutschland dürfe niemals mehr zurückfallen in die dunkelste Periode der deutschen Geschichte – dramatische Pause, ernstes Gesicht – die Kanzlerschaft von Gerhard Schröder. Tadaa, leider ausgeschieden, die dunkelste Periode in der deutschen Geschichte war nicht einmal für meinen Vater die Kanzlerschaft von Gerhard Schröder. Der dritte Herr, den ich WIRKLICH nicht ertragen kann, ist Norbert Röttgen. Meine Güte, und alle möglichen Menschen finden den so sonorig und staatsmännisch. Wenn ich den sehe, sehe ich Loriot. Wenn ich den höre, höre ich die Bundestagsrede von Loriot. Vielleicht habe ich das nur einfach nicht gut verstanden, aber ich habe so viele wirklich dumme Dinge aus Röttgens Mund gehört, das kann ich gar nicht aufzählen. Bemerkenswert jedenfalls seine Erklärung der parlamentarischen Demokratie (mit einem wirklich guten Hummelvideo!) Das Gemeine an Röttgen ist nach wie vor, dass er ja immer so furchtbar seriös und staatsmännisch wirkt, in der B-Note hängt er Scholz meilenweit ab. Sein momentaner Lieblingsausdruck, zumindest ist es das, was ich sehr oft von ihm höre, ist „Status quo ante“, viel staatsmännischer kann es ja nun nicht mehr werden. Wenn man nicht ganz aufmerksam zuhört, würde man sofort in den digitalen Kalender zum nächsten Wahltermin schreiben: „CDU wählen“. Dass er sich allerdings hinstellt und Olaf Scholz unverhohlen beschuldigt, eine „heimliche Russland-Agenda“ zu verfolgen, die darauf basiert, dass Deutschland Russland nicht schaden möchte als Folge „alten sozialdemokratischen Denkens“ zeigt ja doch sehr deutlich, dass es ihm wirklich überhaupt nicht darum geht, dass das Land zusammenbleibt und durch die Krise kommt, sondern um seinen nächsten Posten, wenn die SPD weg ist. Bah.

1 Gedanke zu „01.06.2022“

  1. Ich habe als Kind immer mit großer Begeisterung sonntags „Die Stimme der Kritik“ von Friedrich Luft gehört. Nie verpasst, obwohl ich kaum verstand, worum es ging (und ohnehin nicht nach Westberlin ins Theater hätte gehen können).

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