20.01.2024

Ich habe Demonstrationsneid, ein Gefühl, das ich aus meiner Vergangenheit so noch nicht kannte. Meine Waffe ist das Wort, das kann ich auf verschiedene Weisen ausleben, selten hatte ich bislang das große Bedürfnis, zu demonstrieren. Nicht, dass Sie daraus ableiten, dass ich demonstrieren doof finde, im Gegenteil, aber es kam oft nicht so dazu, denke ich. Ich weiß, dass ich 1998 mit einem Reisebus von Münster nach Düsseldorf fuhr, um dort gegen Studiengebühren zu demonstrieren. Vor mir lief ein Mensch mit einem Schild „Bildung auch für Mario Basler“, das fand ich lustig, das finde ich auch heute noch lustig, das ist weniger schlecht gealtert als meine Meinung, dass keine Studiengebühren erhoben werden dürfen, die sind nämlich, lernte ich später, kriegsentscheidend wichtig und auch für die Studierenden nur gut, was es braucht, sind gute staatliche Förderungen, wie es sie in den Niederlanden oder den USA gibt. Aber gut, damals fand ich das richtig.

Und dann war Herr H. neulich am Tag der Reichsprogromnacht demonstrieren an der Synagoge in Düsseldorf, gegen Antisemitismus. Ich war nicht dort, im Gartenhaus waren vier Teenager, die lässt man um 22.30, da wurde nämlich demonstriert, nicht alleine, gut, vielleicht doch, aber ich bin da gerne in der Nähe.

Und dann geriet ich mit Frau N. in Wien aus Versehen erst in eine Messe mit Abendmahl, dann in eine pro-palästinensische anti-jüdische Demo, ich denke, den ganzen Zeitslot blenden wir mal aus, das war alles nix.

Und jetzt demonstrieren so viele Menschen in Deutschland, dass ich ganz beseelt bin. Und ja, neulich kommentierte jemand zurecht unter einen meiner Tröts, dass es besser wäre, wenn die Leute bei den anstehenden Wahlen protestieren gegen Rechts, nicht jetzt auf der Straße und im Netz, aber vielleicht kann man einfach beides machen. Meine Bubble ist jedenfalls stabil, alle demonstrieren brav, ich würde auch gerne demonstrieren, aber die Gesamtmaladität in dieser Familie hält uns davon ab, in andere Städte zu reisen, und in Düsseldorf wurde dieses Wochenende nicht demonstriert, hier ist ja gerade die Boot (Slogan: BOOT – Noch besser. Noch größer. Noch spektakulärer), das ist so klischeehaft Düsseldorf, dass ich kurz angestrengt mit den Augen rollen möchte, aber gut, diese Woche Boot, nächstes Wochenende wird dann auch hier demonstriert, aber nein, da kann ich dann leider auch nicht mitdemonstrieren, da ist nämlich schon wieder Familienfeier in meinem Wohnzimmer, mit mehreren 80Jährigen, die kann man also auch nicht überreden, erst fix demonstrieren zu gehen, um dann lecker Bratkartoffeln (auswärts) und Kuchen (zuhause) zu essen.

Liegt es also an Ihnen, bitte bleiben Sie dran, ich habe zur Abwechslung keinen Amüsierneid, sondern Demonstrierneid, und feuere vom Sofa aus an, lese alle Berichterstattung und bin stolz, dass die schlafende Mitte endlich wach wird. Wollen wir hoffen, dass es irgendwas bewirkt.

13 Gedanken zu „20.01.2024“

  1. Hier 12.000…..in unserem beschaulichen Mittelhessen. Ich war beseelt und hatte nasse Füsse. Seltsamerweise waren viele junge Leute und viele best-ager 60+ da, der „Mittelbau“ fehlte so ziemlich 🤷‍♀️ das wurde auch von anderen so wahrgenommen.

    • Der Mittelbau ist – so der Eindruck im privaten und beruflichen Umfeld – zur Hälfte krank und versucht zur anderen Hälfte, den Laden irgendwie am Laufen zu halten. Ich hätte am Wochenende auch gerne demonstriert, die Energie reichte aber nicht einmal für den Antifastickergenerator (von dessen Existenz ich auch erst später erfuhr. Die Energie reichte nicht für Internet). Und wenn ich ausfalle und dann noch ein Kind krank ist, kann auch der Mann nicht demonstrieren gehen. So erkläre ich mir das.

  2. Wäre es die Demokratie nicht wert, Termine zu verschieben? Sie sind doch sonst auch meinungsstark.

    • Ich kann nicht verschieben, wann meine Schwester ihren Geburtstag feiert, nein. Ich kann natürlich sagen, dass sie nicht bei uns feiern darf, aber nein, das ginge zu weit.
      Andererseits hatten wir gestern beschlossen, dass wir dennoch hingehen, aber die Idee, eine Familienfeier, die nicht die eigene verschieben zu lassen, ist wahrlich sehr abwegig.

  3. Wollte gerade mal schauen, was du wo auf Mastodon schreibst, scrolle runter und sehe nur dein Ex-Twitter verlinkt … Ich erwähn‘s nur, weil ich Fußzeilen und Ad-Ons bei mir im Blog oft auch jahrelang vergesse. Nur falls du es anpassen magst. Sonst lösch das hier.

    • Ach herrje, Sie haben Recht. Ich werde das ändern (lassen), nicht zwingend morgen, aber auf Twitter passiert ja wirklich aus meiner Tastatur nichts Relevantes mehr. Vielen Dank für den Hinweis, hätte ich alleine nicht gemerkt.

  4. Ich will Ihre Familienfeier nicht kleinreden und würde zu so einem Anlass vermutlich auch eher die Feier als die Demo wählen. Wollte aber doch kurz melden, dass ich gestern mit einem 80 Jährigen demonstriert habe und dass es ihm nicht geschadet hat. In Karlsruhe waren unglaublich viele Menschen aller Altersgruppen (20 000-25 000) auf der Straße, dass hat schon enorm gut getan. Auch viele Familien mit Klein- und Schulkindern.

  5. In Saarbrücken habe ich heute fast so viele Rollatoren gesehen wie Kinderwagen, auch Menschen im Rollstuhl waren da. Es ist einfach so schön – vielleicht will Ihre Familie das auch erleben? 😉

    Gute Besserung ins Haus Herzbruch bis dahin!

    • Wir wollen uns jetzt alle gemeinsam, Frau Herzbruch vorweg, von dem Gedanken verabschieden, dass sie nächstes Wochenende statt zur Rollatorparty daheim einzuladen auf eine Demo geht. Die Situation ist vollkommen unsinnig. Das wird nicht stattfinden. Ist aber auch egal, denn es wird weitere Demos geben, an einem anderen Tag halt.

      • So nämlich. (Und tatsächlich hatten wir ja schon gestern nach diesem Text beschlossen, dass wir für 1,5 Stunden doch hinfahren und einfach den Schlüssel abgeben, aber das würde ich ja jetzt schon nicht mehr offen sagen.)

  6. Das wird ja noch ein Marathon, die Demos gehen hoffentlich noch weiter, Ihre Stunde wird kommen! Eine schöne Feier allen, mit und ohne Rollator.

  7. Ich bin ein bisschen verwundert über die vielen Kommentare, die fragen ob man nicht mit mehreren (!) 80jährigen (!) mal flott (!) auf ne Demo will.

    Jedenfalls, wünsche ich viel Spaß auf der Geburtstagsfeier und bei den nächsten Demos sind sie dann sicher dabei, soweit es gesundheitlich machbar ist.

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