19.05.2022

„Wollten wir nicht die Vorhänge noch aufhängen?“ fragte der Mann um 21.45 Uhr. „Ja, wollten wir“, sagte die Frau. „Vor sieben Jahren.“

Also baute ich das Bügelbrett auf, schickte Herrn H in den Rest-Flutopfer-Keller um zu gucken, ob dort noch eine Nähmaschine steht, die Vorhänge waren nämlich 3 Meter lang, mussten aber eigentlich 1,45 lang sein, mit ein Grund, warum sich das Aufhängen in den letzten sieben Jahren nicht ergeben hatte, seit mein Kind sich zur Einschulung gewünscht hatte, den ganzen Rest seines Lebens nur noch Anziehsachen aus dem Kaufhaus tragen zu können, sah ich für mich keinen großen Vorteil im Nähen, und da ich ja nichts einfach nur so ohne Grund mache, habe ich halt auch nicht mehr genäht. Aber so eine Naht an einem unten abgeschnittenen Leinenvorhang, das muss man ja eigentlich können, wenn man sieben Jahre vorher noch Wende-Kapuzenjacken nähen konnte.

Eine Sache hatte ich vergessen, vermutlich verdrängt. 80% des Nähens ist Bügeln, und ich hasse Bügeln. Leinenvorhänge. Wie furchtbar. Also bügelte ich den ersten Vorhang, verbrannte mir dabei den Finger, bat Herrn H., ob er im Keller mal gucken könnte, ob er vielleicht auch noch die Schneidematte und den Rollschneider findet, er fand die Schneidematte, den Rollschneider nicht, und so kam es, dass ich sagte: „Dann nimm Onas Bastelschere“, und er schnitt beherzt in den ersten Vorhang, stoppte nach 5 cm, räusperte sich und sagte: „Ach, du nähst das um, oder?“, ich ließ ihn noch mal kurz scharf nachdenken, wofür ich wohl gerade Flutstaub von der Nähmaschine putzte, dann erwähnte ich situativ zu spät, dass er natürlich 1,47m zuschneiden muss, dann entschieden wir, dass das Fenster vorm Schreibtisch nicht so wichtig ist, da kann so ein Vorhang auch mal zu kurz sein, dann bügelte ich, dann schnitt er, dann bügelte ich die Kante, die Stecknadeln hatten wir natürlich auch nicht gefunden, ohne zu Nähen benutze ich die nicht, also sind sie vermutlich da, wo seit sieben Jahren der Rollschneider ist, dann setzte ich mich an die Maschine, tastete alles ab, suchte den An-Knopf, fand ihn, war sehr froh, dass weißes Garn drauf war, und wusste wirklich gar nichts mehr. Ich hatte alles vergessen, begonnen mit dem An-Knopf.

Und dann passierte etwas, das auch schief hätte gehen können. Ich machte den Fernseher an und guckte irgendsoeine Quatsch-Talkshow, konzentrierte mich allein darauf, und ließ mein Körpergedächtnis den Vorhang umnähen. Das ging etwa 10 cm gut, dann war die Unterspule leer, nach 2 Minuten fiel mir auch wieder ein, dass vielleicht das Problem sein könnte, dass die Unterspule, heißt das eigentlich so, leer ist, dann suchte ich diese, dann wusste ich wieder nicht weiter, konzentrierte mich wieder auf die Talkshow, spulte Faden drauf, machte offensichtlich irgendetwas falsch, es gab nämlich ein riesiges Garnknäuel, das Problem konnte ich aber mit ein bisschen Mut (Faden mit dem Finger lenken und dabei nicht den Finger abschneiden, früher habe ich das anders gemacht, ich wusste aber nicht mehr, wie) lösen, dann musste das Garn wieder in die Nadel gefädelt werden, da hätte ich fast geweint und habe es dennoch geschafft, mich an den Weg, den der Faden laufen muss, zu erinnern, indem ich die Augen zu machte und einfach eine bekannte Bewegung ausführte, dann – und das ist neu – konnte ich weder Faden noch winzigkleines Fädelloch in der Nadel sehen, dann holte ich meine Lesebrille, dann sah ich Faden und Loch, war mir aber sehr sicher, dass das außerhalb menschlicher Möglichkeiten sei, da einzufädeln, irgendwie ging es aber doch, dann nähte ich drei Vorhänge. Und beim vierten brach die Nadel in der Mitte durch. Ich habe aufgegeben, es ist ja sehr spät. Im Gartenhaus gibt es also jetzt drei umgenähte und einen umgebügelten Vorhang, und die nächsten sieben Jahre fühle ich mich wieder nicht zuständig.

2 Gedanken zu „19.05.2022“

  1. Das Körpergedächtnis – so faszinierend immer wieder! Irgendwie schade, dass Sie so gut nähen konnten und das nicht zum Einsatz kam.

  2. DAS! Genau DAS!
    Naehmaschinen ey. Es kann nicht so kompliziert sein, weil das ja nun wirklich viele Menschen beherrschen.
    Aber es ergibt sich ueberhaupt nicht von selbst.
    (Ach ja und das mit der Lesebrille. Das auch.)

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