Heute hätte ich fast mein 9-Euro-Ticket benutzt. Direkt am 2. Juni, da hätte es nix zu meckern gegeben. Ich hatte einen Termin bei so einem Anwalt, und der wäre nett gewesen, also der Termin, und ich hätte mit der U-Bahn hinfahren können, die Kanzlei wäre nur 69 Meter von der Haltestelle entfernt gewesen, allerdings bekam der dann fast ein Kind, also seine Frau, und deshalb konnte er leider nur telefonieren. Mit Kleinigkeiten muss man großzügig sein, ich habe das als gute Ausrede anerkannt und telefoniert. Dabei fiel mir Folgendes auf: Ich war mir ja sehr sicher, dass man zu vielen beruflichen Terminen zukünftig nicht mehr in Präsenz anreisen muss. Ich komme aus einer Welt, in der man auf Kundenkosten für einen Jour Fixe einmal im Monat mit vier Leuten nach München fliegt, um zwei Stunden später wieder zurück zu fliegen. In meinem letzten Job musste ich ab und an nach Dresden, da saßen in der Maschine hin um 7 Uhr morgens und in der Maschine zurück um 7 Uhr abends immer exakt die gleichen 100 Männer in grauen Anzügen und ich. Abends roch es aber etwas angestrengter im Flugzeug. Ich glaube, das ist für viele Branchen jetzt vorbei. Hurra. Meine ist dabei. Ich habe mich jedenfalls bereits nach dem ersten Pandemiejahr mit dem Gedanken angefreundet, dass hoffentlich dieses mit den Videokonferenzen inzwischen so gelernt ist, dass man das auch nach der Pandemie, whenever that may be, so weitermachen kann. Ich glaube, diese Quatschreisen sind für mich vorbei. Hinreisen zum Kennenlernen, ab und an hinreisen zum Sekttrinken oder so, Rest virtuell.
Es ist nämlich so: Natürlich kann ich die Reisezeit abrechnen, und natürlich kann man in der Zeit auch ein bisschen was anderes machen. Wer aber schon mal innerdeutsch Coach geflogen ist und größer als, sagen wir mal, 80 cm, der weiß, dass es sehr kompliziert ist, auf dem Schoß während des Fluges den Laptop aufzuklappen. Dann spielt man doch besser Candy Crush. Wenn ich allerdings einfach zuhause bin, dann muss ich nicht um 6 Uhr schon am Flughafen stehen, sondern ich kann um 7 Uhr dem Kindelein einmal zärtlich übers Haar streichen und dann gucken, ob ich lieber noch eine Stunde schlafen möchte, oder halt nicht. Wenn dann um 11 Uhr der Termin ist, dann muss ich mich nicht in irgendeinem Unisexklo frischmachen, sondern ich gehe in mein Badezimmer, mit all meinen Badezimmersachen, und mache mich einfach da frisch. Und wenn der Termin um 13 Uhr zuende ist, muss ich gar nicht in so eine Mitarbeiterkantine eingeladen werden, sondern ich esse einfach etwas, was da ist, oder was ich für das Kind mache, Spaghettoni zum Beispiel, oder nichts. Ist ja auch egal. Die Wäsche. Ich kann dann noch die Wäsche machen, das kann ich in diesem kleinen Flugzeug mit den grauen Männern auch nicht. Nachmittags (Alternative A) sitzt man dann auch nicht irgendwo rum, weil man den Rückflug für 19 Uhr geplant hat und der Kunde um 15 Uhr Feierabend macht und dann zum Badminton muss, oder (Alternative B) man wird nicht zu irgendeinem schlechten Event mitgeschleppt, weil es doch alles viel schneller fertig war, als man dachte, und dann ruft man nicht auf den allerletzten Drücker ein Taxi und winkt am Ende dem Flugzeug hinterher, das ohne eine auf die Rollbahn fährt. Alles passiert. Am schönsten ist es doch, also für mich, meine Wäsche und die nicht zuletzt Umwelt, wenn es so bliebe, dass man das nicht mehr machen muss.
Was mich heute Nachmittag, als ich noch nichts von der drohenden Geburt der Anwaltsfrau wusste, zu dem Gedanken brachte, dass es doch eigentlich auch totaler Quatsch ist, mit dem 9-Euro-Ticket in eine Anwaltskanzlei zu fahren, nur damit man sich persönlich 30 Minuten gegenübersitzen kann, wofür soll das gut sein? Das Telefonat dauerte heute etwa 20 Minuten, vielleicht noch 2 Minuten Nachpudern (es war der 6. Termin des Tages), das Ergebnis war exakt das, was vor dem Termin bereits als Ergebnis festgelegt war, und anschließend konnte ich mich einfach entspannt in den Sessel setzen. Ich sehe wirklich überhaupt keinen Grund, warum ich jemals wieder irgendwo hingehen sollte.
Gerade habe ich das Thema Videokonferenz beim Frühstück besprochen.
Herr croco findet es prima, für seine zahlreichen Fortbildungen nicht durch die Republik gurken zu müssen. Und ich bin gespalten. Zeugniskonferenzen sind prima per Video, weil jede Klasse genau 30 Minuten hat und kein Laberklassenlehrer traut sich zu überziehen weil dann die anderen schon im Raum sind. Da mag man sich nicht outen.
Unterricht ist nicht schön, weil nicht alle sind. Nie. Entweder hat eine große Familie nur einen Computer, oder man meldet sich und schläft dann ein. In der Pubertät ist nicht genug Disziplin vorhanden sich aus dem Bett an den Rechner zu bewegen. Zu Schulzeiten bekommt man Frühstück und wird in den Bus gesetzt, da sind auch schon die anderen und es läuft.
Uns sind einige Klassen entglitten und das ist Gymnasium. Wie es an anderen Schulformen ist, mag ich mir nicht vorstellen. Für die guten und interessierten Schüler war es übrigens eine gute Zeit, sie konnten selbstorganisiert lernen und kamen vergnügt aus dem Lockdown.
Schulisch war die Zeit für mein Kind ein Traum, er war auch mit allergrößter Begeisterung zuhause. Aber natürlich ist mir mehr als klar, dass so ein Kind in dem Alter auch lernen muss, ein soziales Wesen zu werden, und das funktioniert ja nur, wenn man in einem sozialen Gefüge ist, wo man manche Leute sehr mag und manche vielleicht auch gar nicht. Er wünscht sich die Zeit manchmal zurück, und ja, es war für uns als Familie mit guter Infrastruktur und viel Platz auch, ich traue es mich kaum zu sagen, ganz schön. Aber ich denke, für Mann und Kind war es jetzt auch mal gut mit dem Zuhausesein 😉