Würde ich jemals in die Situation kommen, dass ich einen führenden Wissenschaftler zu dem den gesamten Erdball in Schach haltenden Pandemiegeschehen interviewen müsste, würde ich mir selbstverständlich auch einen frechen Einstieg überlegen. In etwa so: „Hallo Herr X., das ist Ihnen schon klar, dass Sie diesen Job nur deshalb bekommen haben, weil alte weiße Männer nun einmal nur alte weiße Männer berufen? Was macht das mit Ihnen?“ gefolgt von „An einzelnen Stellen im Prozess reagieren Sie unnötig cholerisch. Liegt das daran, dass Sie nur 1,73m groß sind? Oder haben Sie zuhause nicht die Hose an und müssen deshalb im Job so richtig auf den Putz hauen?“ vielleicht gefolgt von irgendwas, das nahelegt, dass entweder seine Frau ihn nicht mehr ranlässt, oder er dann nicht wie gewünscht performt. Dann Bogen zurück zur Qualität seiner Arbeit, Kinder können wir weglassen, danach werden ja grundsätzlich nur Frauen befragt, und voila, schon haben wir einen frechen Einstieg und können uns von dort aus um die wirklich wichtigen Dinge im Leben kümmern.
Jetzt wollte ich erklären, dass ich das alles ja aus persönlicher Erfahrung so anstrengend finde, und dann fiel mir ein, dass ich einen großen Showdown vor vielen Jahren hier sogar mal verklausuliert wiedergegeben habe, und durch schlaues Suchen fand ich den Text sogar wieder. Zu meiner großen Enttäuschung (und auch ohne nachvollziehen zu können, warum ich das gemacht habe) musste ich feststellen, dass ich in dem Eintrag zwar die Abläufe und die Stimmung recht gut wiedergegeben habe, dass der alles entscheidende Hauptsatz, den ich in den letzten 9 Jahren nur zu oft zitiert habe, in dem Text allerdings fehlt. Vermutlich, weil mir das alles zu unangenehm und peinlich war. Daher ergänze ich einfach 2020 (wer mich besser kennt, kann den Satz seit Jahren im Chor mitsingen):
„Wie wollen Sie sich denn bitte als Frau am Fachbereich Mathematik durchsetzen??“ (Ich wäre die einzige Professorin gewesen). Das war die erste, vorgeschaltete Frage des Kommissionsvorsitzenden zum inhaltlichen Vortrag, nicht hinterher im nichtöffentlichen Teil, die den Ton für die nächsten 90 Minuten ja gut festlegte. Mit der Ergänzung im Hinterkopf dürfen Sie gerne noch einmal mit mir leiden. Was ich 2011 übrigens auch unterschlagen habe, ist, dass das die erste von zwei Situationen in meinem Leben war, in der mir – ich trug eine Feinstrumpfhose – Schweiß aus den Kniekehlen rann, das war der Preis dafür, dass ich nach außen kontrolliert und souverän wirkte. Irgendwo muss es ja raus. (Das zweite Mal war ein zweistündiges Telefonat mit einer großen Kommission im Mutterhaus in New York, die mich dazu bewegen wollte, etwas zu tun, was ich nicht tun wollte. Da konnte man viel lernen: Ich habe regelmäßig den Satz wiederholt „This is not negotiable“, woraufhin am anderen Ende Stille herrschte. Ich habe das schnell durchschaut, wenn man selber dann weiterredet, weil man die Stille nicht erträgt, dann verhandelt man ja eigentlich doch. Also habe ich auch geschwiegen. Die längste Pause war fast 90 Sekunden, das ist am Telefon sehr lang, da wird es auch schon mal anstrengend in den Kniekehlen. Die Kniekehlen sind meine berufliche Angstreaktion.)
So, wie kam ich drauf? Richtig. Der finale Verfall des SPIEGEL. Ich habe schon immer SPIEGEL gelesen, im Studium sogar so verrückt auf Papier. In einem Proseminar zum Thema Pressesprache (gähn) habe ich ein Referat über den SPIEGEL gehalten (gähn). Ich hatte jahrelang SPON als Startseite eingestellt. Irgendwann habe ich dann sogar das SPIEGEL+ Abo gekauft. Ja. Hab ich alles getan. Aber da ich ja in der Vergangenheit auch nie die BILD gelesen habe, da ich mich ja höchstens für Journalismus interessiere, nicht für Trash, ist diese jahrzehntelange Freundschaft hier jetzt leider zuende.
Ich hab mich schon länger permanent geärgert. Nicht nur über den SPIEGEL, da ich dort aber am meisten lese, war die Frequenz groß. Mitten im Lockdown die Clickbait Überschrift „Jeder 5. Deutsche hält die Corona Maßnahmen für übertrieben“. Beruflich arbeite ich mit Statistik und kommuniziere Ergebnisse. Wenn in einer Umfrage 18% der Befragten sagen, die Maßnahmen gingen ihnen zu weit, 82% sagen, sie seien perfekt oder noch zu harmlos, ist die Botschaft ja nun wirklich nicht, dass jeder 5. unzufrieden ist, es sei denn, man möchte Bambule durch Bias fördern. Und das habe ich in der ganzen Pandemiezeit nicht zu schätzen gewusst. Ich bin sehr für ausgewogene Berichterstattung, für das Anhören aller Seiten, dass die Medien nicht Fox News-gleich Sprachrohr der Regierung sind. Aber das Phänomen, dass sich jede Geschichte noch besser verkauft, wenn Leute darin streiten, schreien oder bloßgestellt werden, hat in den letzten Monaten dazu geführt, dass ich meistens die Bundespressekonferenz gucke und mir den Rest einfach selber denke. Das ist aber auch kein guter Weg, ich bin ja nur inselbegabt. Ganz besonders schlimm ist übrigens die Mechanik, mit der der SPIEGEL neue SPIEGEL+ Abonnenten zu gewinnen versucht. Alle interessanten oder gesamtgesellschaftlich wichtigen Texte sind hinter der Aboschranke, das könnte man ja sogar noch nachvollziehen, aber dann sind die Artikel häufig mit Clickbait-Überschriften versehen, die schlichtweg falsche Informationen oder Fragestellungen vermitteln, die dann zwar hinter der Bezahlschranke wieder geradegerückt werden, das ist aber für die allermeisten Leser gar nicht zu erfahren.
Deshalb lese ich jetzt was anderes. Hera Lind. Gibt es die eigentlich noch?
Zu viel Information