10.04.2022

Manchmal liest oder hört man Sachen, die so entwaffnend offen sind, dass man eigentlich nix mehr sagen kann. Diskussion ist dann überflüssig, es gibt keinen Grund mehr, zu argumentieren, die Fronten sind geklärt, es ist alles gesagt, man befindet sich an unterschiedlichen Enden der Skala, gut ist.

„Das Wir darf nie über dem Ich stehen“, der Titel eines Anti-Impfpflicht Artikels in der Welt, den ich leider gar nicht lesen konnte, daher kann man im Nachhinein ohne Weiteres sagen „Aber in dem Text ist das ja alles viel differenzierter blabla, man muss sich schon informieren, wenn man sich aufregen will“. Ich habe mich dagegen entschieden, der Text liegt hinter der Paywall, und der Tag, an dem ich ein Welt Abo abschließe, liegt in sehr weiter Ferne. Geschrieben ist der Text von Recherche und Archiv Anna Schneider, die bekanntlich davon profitieren könnte, wenn Karl Lauterbach ihr auch einmal anbieten würde, ihr ein paar Studien zu schicken, sie scheint nicht immer auf der Höhe der aktuellen Entwicklungen zu sein. Ganz ganz schlechten Stil finde ich übrigens, Menschen, die sich kritisch äußern, der Meute zum Fraß vorzuwerfen. Mit Bild. Wie menschlich klein ich das finde, konnte nur dieses lustige Antwortgif von Anne Schüßler mit der ganz ganz kleinen Geige ausdrücken.

Aber ich wollte ja über das Ich und das Wir sprechen. Ist doch schön, dass das jetzt einfach mal so ausgesprochen werden kann. Nach wirklich wenigen Monaten Regierungsbeteiligung der FDP sind wir bereits da angekommen, wo das einfach aufgeschrieben werden kann (vollkommen egal für mich, was genau in dem Text steht). Natürlich steht das Ich über dem Wir, wenn ich entscheide, dass das Tragen einer Maske und die Impfung gegen die Verbreitung eines Virus, das täglich 300 anderen Leuten das Leben kostet, für mich eine gewisse Unkomfortabilität bedeutet, die ich nicht bereit bin zu tragen. Ich muss ja nicht sterben, so gesehen ist das für mich nicht schön. Und darum Kümmern, dass die anderen auch nicht sterben? Hallo? Vergessen? Das Wir darf nie über dem Ich stehen. Und wir verpesten die Umwelt und verbrauchen vollkommen überflüssig viel Treibstoff, wenn wir mit 180 über die Autobahn rasen, zudem fahren wir einfach im Zweifelsfall mehr Leute tot? Ja hallo!! Sind Sie mal auf der linken Spur mit Blinker links und 190 Sachen in so einem VW Passat zum nächsten Staubsaugerverkäufer-Kundentermin gefahren? Das macht so Spaß, da bin ich aber nun wirklich nicht kompromissbereit. Das mag für die gesamte Welt besser sein, aber für mich ist das dann ja nicht besser, ich hab nur Sprit gespart und die Umwelt geschont und eventuell die Spritknappheit dank Krieg nicht weiter befeuert, aber HALLO? You get what I mean.

Ich kann das alles nicht mehr hören. Es hängt mir zum Hals raus. Seit zwei Jahren beschäftige ich mich beruflich und privat mit nix anderem als COVID-19, und dass irgendwann Karlalso Lauterbach (geklaut bei Frau Novemberregen) eine völlig absurde Dichotomie erfindet zwischen „Ichalso als Abgeordneter“ und „Ichalso als Minister“, und in der einen Rolle setzt er sich vehement für die Impfpflicht ein, in der anderen Rolle möchte er sich gerne nicht einsetzen dennalso das ist also eine ethische Frage… Ich habe viel mit Ethik zu tun. Ich kann verraten: Teils wirklich sehr komplexe Sachverhalte, vielleicht WÄRE ES JA GUT GEWESEN WENN DA JEMAND MAL DIE WEICHEN GESTELLT HÄTTE. Dafür haben wir Karl nicht gewählt. Ach so, ich habe Karl sowieso nicht gewählt, ich war aber der Meinung, als Scholz irgendwie noch versuchte, zu verhindern, dass er das BMG übernimmt, dass er das mal schön sein lassen sollte, es wäre ja mal an der Zeit, dass jemand uns durch die Pandemie begleitet, der sogar weiß, wovon er spricht. Harter Aufprall. Denn ja, natürlich ist er in der Realpolitik angekommen blabla, und natürlich haben die 18Jährigen aus Versehen Kubicki und Co in die Regierung gewählt, aber was ich noch viel schlimmer finde, als Sachen einfach falsch zu machen, ist es, Sachen falsch zu machen und dann zu sagen „als Minister mache ich das jetzt falsch, aber auf Twitter, da bin ich diese andere Person, die weiter sehr laut brüllt, was Leute jetzt machen sollten, sonst werden wir alle sterben.“ Das ist auch sehr klein.

Minister führen von vorne, und Robert Habeck zeigt uns seit Wochen, wie das geht. Habeck wollte mit größter Sicherheit noch keinen einzigen Tag in seinem Leben nach Katar fliegen, um dort Öl zu erbetteln, ich denke, darauf können wir uns einigen. Aber er tut es, weil es in der Situation von allen beschissenen Varianten die ist, die für sein Land die erträglichste ist. Und er stellt sich vor Kameras und zeigt sehr deutlich, dass ihm das keinen Spaß macht, dass es aber die richtige Entscheidung ist. Robin Alexander, ein anderer Chef bei der Welt, bei der Welt ist es sehr schwer, nicht Chef zu sein, scheint es, schrieb neulich auf Twitter – und ich muss dazu sagen, dass ich ihn sehr klug finde, er bräuchte mal einen neuen Job – sinngemäß, dass nur die FDP gerade operativ den Willen ihrer Wähler umsetzt, alle anderen machten das genaue Gegenteil davon, was ihre Klientel gerne hätte. Ich möchte da heftig widersprechen. Habeck macht EXAKT das, was ich gerne hätte. Er gerät in eine Situation, findet eine gemeinschaftliche Lösung und exekutiert die dann, mit Bauchschmerzen, weil sie schlecht aber in der Situation richtig ist. Und das ist das Einzige, was ich gerne hätte. Nichts anderes erwarte ich von Politikern in Regierungsverantwortung. Dass sie die bestmögliche Lösung finden, und zwar in jeder noch so beschissenen Situation. Ich neige zum Kraftausdruck, ich beginne einen neuen Absatz, manchmal hilft das.

Wie wir bei der Abstimmung im Bundestag zur Impfpflicht sehen konnten, tragen auch Oppositionsfraktionen durchaus Verantwortung, und wenn ich mich richtig erinnere, hat die Union vorgestern einfach drauf geschissen. Oh, geht nicht weg, das mit den Kraftausdrücken, macht nix, ist gleich auch vorbei. Dass Merz seine Abgeordneten dazu angehalten hat, gegen den Entwurf zu stimmen, um Scholz und Lauterbach einen reinzuwürgen, lässt hoffentlich viele derjenigen, die wir extra gewählt haben und fürstlich dafür bezahlen, dass sie genau das tun, was sie für richtig halten und sich dafür einsetzen, ganz schlecht schlafen. Ganz schlecht. Das war nämlich auch sehr klein. Sehr klein.

6 Gedanken zu „10.04.2022“

  1. Sie sprechen mir da wirklich aus dem Herzen. Was bei der FDP los ist, geht doch auf keine Kuhhaut. Als ich zum ersten Mal hörte, dass Lindner plant, 20ct Tankrabatt zu geben direkt an der tanke… omfg.
    Das ÖPNV Ticket bringt mir hier auf dem Land nichts, das ist schade, aber wenn wir zu wenig Schilder für ein Tempolimit haben, so haben wir doch wenigstens genug Fahrkartenautomaten.
    Habeck gefällt mir außerordentlich gut, Baerbock allermeist auch.
    Die cdu wird sich so Gsd nicht erholen und Karl, ach Karl.

  2. Dass das Ich immer an erster Stelle steht, ist das gesellschaftliche Grundproblem unserer Zeit. Und nein, mehr Wir heißt nicht automatisch Zwangskollektivierung und Sozialismus.

  3. Danke, dass Sie so deutlich sagen, wie die Situation ist. Ich schleiche immer drum herum und traue mich nicht so richtig – aber Sie haben ganz recht, es war einfach Scheiße, was da mit der Impfpflicht passiert ist. Parteipolitisches Taktieren, egal wie viele Leben es kostet, Hauptsache, dass es dem politischen Gegner schlecht ergeht.
    Danke.

    • Gerne! Da sollten wir auch nicht drumrumschleichen. Es ist nämlich so: Das mag ja ein total naives Politikverständnis sein, immer zu denken, es könnten ja einfach mal alle machen, was am besten für das Land wäre, aber ich weiche nicht davon ab, zu sagen: Das würde ich mir aber gerne mal angucken.

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