Pulled to bits

Wenn ich meine Kindheit und Jugend beschreiben muss, weiß ich eigentlich gar nichts mehr. Genau genommen habe ich genau zwei Dinge gemacht, 18 Jahre lang: Musik und Sport. Letzteres war noch mal in zwei Disziplinen unterteilt, nämlich Dressurreiten (wollte ich) und Handball (wollten meine Eltern), zwei Sportarten, die nicht weiter voneinander entfernt sein konnten. Reiten hab ich mir gesucht, Ponymädchen, die ganz harte Schule, sehr viel runtergefallen, nie aufgegeben. Die Phase war irgendwann vorbei, es kam das in vielen durchwachten Nächten heißersehnte Pferd, und ab dem Tag war es nicht mehr „Reiten“, sondern „Dressur“, ein Sport, der zwei Dinge perfekt vereinte: meine Liebe fürs Pferd und einen gewissen Hang zur Ästhetik. Mit Zylinder und Jackett sieht man gut aus, da beißt die Maus keinen Faden ab, um mal einen schlechten Spruch zu bemühen. Ich habe das lange verfolgt, aber die Geschichte ist langweilig.

Meine Eltern waren sich nicht sicher, ob meine Persönlichkeit mit – ich zitiere meinen Vater – „dem Arsch auf nem Gaul rumrutschen“ vollumfänglich abgebildet sei, und auch, wenn ich ihn damals ein bisschen gehasst habe, bin ich ihm heute sehr dankbar: Ich musste mir mit 6 einen „Ausgleichssport“ suchen. Nun bin ich sehr suburban aufgewachsen, und da das Hauptkriterium meiner Eltern war, dass ich den Ausgleichssport mit dem Rad erreichen konnte, weil die Reiterei schon 6 Tage in der Woche rumkutschieren bedeutete – hatte ich komplett freie Auswahl zwischen Trampolinspringen und Handball. Hätte ich wirklich entscheiden dürfen, hätte ich Volleyball spielen wollen, auch dort sehe ich eine gewisse Schönheit im Bewegungsablauf, es gibt keinen Körperkontakt, etc., aber obwohl der Nachbarverein in den Jahren regelmäßig Deutscher Meister wurde, sahen meine Eltern mich im Winter im Regen nicht mit dem Rad dorthin fahren (vermutlich hatten sie Recht), und ich wählte Handball. Trampolinspringen halte ich für die nach Rhönradfahren überschätzteste Sportart, aber unser Dorfverein war damals sehr in Aufruhr, da die spätere Weltmeisterin Hiltrud Roewe ja Nachbarskind war. Ihretwegen wurde dann pünktlich zu meiner anstehenden Entscheidung das Hallendach angepasst, und es wurden zwei kleine, wirklich winzig kleine Kuppeln eingelassen, damit man sich beim Springen nicht den Kopf stößt. Das war mir unheimlich. Ein bisschen zu weit rechts – tot. Ich wählte Handball.

Handball ist das Geige der Ballsportarten. Ich kann ja leider überhaupt nichts Qualifiziertes über Fußball sagen, aber mir scheint, dass die initiale Anforderung, wenn man gegen einen Ball treten muss, recht gering ist. Im Handball ist die Lernkurve steil, die ersten Monate bis Jahre kann man sich das sehr schlecht ansehen. Man muss wirklich gut werfen können, aber – und das ist viel wichtiger – man muss wirklich gut fangen können, und der Ball ist klein. Bis das richtig sitzt und man auch schwierige Pässe fängt, steht man gut und gerne schon drei Jahre auf der Platte. Ich fing also mit 6 an, dann trainierten wir etwa ein Jahr lang, dann spielten wir die erste Saison Kreisklasse, und zwar als einzige Mädchenmannschaft. Ich kann es nicht mehr ganz genau sagen, was unser bestes Spiel war, aber 40 Gegentore war sehr üblich, und ich erinnere mich sogar noch sehr gut daran, wie wir vor 37 Jahren gefeiert haben, als wir in der Rückrunde vollkommen unerwartet ein Tor warfen. Nun waren wir ja keine Millennials, daher ist damals kaum eine von uns abgesprungen. Ich nehme vorweg: Ab der nächsten Saison, also der ersten, in der wir nur noch gegen andere Mädchenmannschaften spielten, bis zur B-Jugend waren wir jede Saison Meister oder Vizemeister. Drei unserer Spielerinnen spielten später 1. Bundesliga, 1 Nationalmannschaft. Der Schlüssel zum Glück lautet manchmal Resilienz.

Ich spule mal kurz viele Jahre vor und erkläre Jonathans sportliche Laufbahn bis zu diesem Punkt. Der war ja zeitlebens sehr groß und sehr kräftig, nicht in Form von dick, sondern in Form von sehr viel Kraft haben. Das brachte recht früh, mit 4 oder 5, den Kinderarzt dazu, zu denken, dass man das Kinderturnen (wollen Sie mal was wirklich Schlimmes erleben? Gehen Sie bitte mit Ihrem Kind zum Kinderturnen!) um eine Sportart erweitern solle, wo er das Kanalisieren von Kraft lernen kann. Judo zum Beispiel. Also gingen wir zur Judo Schnupperstunde. Mit mir auf der Bank ganz, ganz schlimme Mütter, aber Ona hatte in der Turnhalle beim Aufwärmen sehr viel Spaß. Irgendwann mussten dann Zweiergruppen gebildet werden, und wer bleibt ja immer übrig? Der Neue und das eher sehr unsportliche Kind. Jedenfalls bildete der zwar hochgewachsene, aber zierliche Vierjährige ein Team mit einer wirklich sehr properen Sechsjährigen, die eventuell das Doppelte von ihm an Masse mitbrachte. Die Aufgabe: Gegner zu Boden bringen und fixieren.

Ich muss nicht ins Detail gehen, ich denke, Sie wissen, was passierte. Anpfiff, die Gegnerin schubste Ona einfach um und setzte sich drauf, und dann schrie mein Kind gefühlt viel zu lange. Ich gehörte (damals) nicht zu dem Müttern, die sich einbringen wollen und sich wie eine Löwin am Trainer vorbei schützend vor ihr Kind werfen. Manchmal dachte ich im Nachhinein, dass das aber vielleicht eine gute Idee gewesen wäre. Er schrie und schrie, das Mädchen saß und saß, nach viel zu langer Zeit kam der Abpfiff, und sie stand wieder auf. Ona auch, er lief sehr sortiert zu mir an die Bank und sagte: „Mama, ich bin fertig mit Judo.“ 7 Jahre später kann ich sagen: Hat sich nicht mehr aufgelöst, der Knoten.

Dann kam Fußball, das war vermutlich von Beginn an die allergrößte Angst, ab der Sekunde, in der ich wusste, dass ich einen Jungen großziehen würde. Fußball war schlimm, und ich werde hier ja nur tolle Dinge über ihn schreiben, daher werde ich es dabei belassen: Das war nicht Onas Sport. Meiner auch nicht, die anderen Eltern waren teils unerträglich, mehr als einmal hat der Mann seine Körpergröße nutzen müssen, um andere Väter vom Platz zu begleiten, die ihre Sechsjährigen anfeuerten mit „hau ihm auf die Fresse“. Und dann war man ja immer draußen, es war zu kalt oder zu warm, meist regnete es. Insgesamt war einer der schönsten Tage in meinem Leben, als Jonathan zu mir sagte: „Mama, ich bin fertig mit Fußball.“

Ich habe damals schon immer gesehen, dass er eigentlich ein Handballer ist. Lang, recht athletisch und immens viel Wumms im Arm. Werfen haben wir von klein an geübt, da ich ja nicht schießen kann (Apfel, Stamm, etc.) Leider hatte ich ihm aber irgendwann mal erzählt, dass Handball auch die ein oder andere körperlich schmerzhafte Komponente hat, daher weigerte er sich beharrlich, denn „so einen brutalen Sport“ wollte er nicht machen. (Hier ist eine Botschaft versteckt.) Schwimmen fand er toll, also wurde geschwommen, er machte Bronze und Silber, für Gold war er zu jung mit 8, hat die Prüfung zwar abgelegt und dann kein Abzeichen bekommen. Zack, Interesse verloren. Pädagogisch auch echt albern.

Dann wurde mein Leben vermeintlich schön. Onas Klassenkamerad ging in den Handballverein und nahm ihn mal mit, und nach 30 Sekunden auf der Platte war es klar. Ona spielt Handball. Mein Herz wurde ganz groß, ich holte meine Adidas Handball Spezial aus dem Schrank und litt dann für weitere 3 Jahre. (Kleiner Exkurs über die Disziplin).

Geige der Ballsportarten, ich erwähnte es bereits. Man muss leider erst mal 1000 Dinge lernen, bevor auch nur annähernd so etwas wie ein Spiel zustande kommt. Handballthemen habe ich in der Vergangenheit unter Klarnamen vertwittert, aber die Beobachtung, dass Ballbesitz reiner Zufall ist, hat mich in den letzten 3 Jahren einiges an Nerven gekostet. Wenn 12 Jungs auf dem Feld stehen und ziellos rumlaufen, von denen alle ein bisschen werfen und fangen können, leider aber keiner wirklich, dann muss man sehr viel Geduld und Hoffnung auf spätere Zeiten aufbringen. Doch irgendwann platzt der Knoten, und dann spielen sie, und dann hält es mich kaum mehr auf der Tribüne.

Interessant ist, dass ich zwar nur knapp 13 Jahre gespielt habe, jedoch recht hoch und in einer wirklich guten Mannschaft, aber das Körpergefühl kann ich auch nach vielen Jahren gut im Kopf reproduzieren. Die Bewegungsabläufe nicht, das ist ein bisschen schade. Sprungwurf haben wir im Garten gelernt. Ich habe die Theorie erklärt, und irgendwann den Ball genommen, links rechts links Sprung, dann riesiges Gelächter. Womit ich mit 18 über jede Deckung gekommen wäre, würde heute kaum mehr reichen, um einen Grashalm zu überspringen. Da aber das gesamte Gefühl für den Ablauf noch da ist, gehe ich mal davon aus, dass ich jetzt einfach nur ein Jahr hart trainieren müsste, schon wäre alles wieder da. Testen können wir das leider nicht, who has the time. Und mein Fuß war ja quasi ab. Zu Beginn des Lockdowns haben wir das Tor wieder in Garten aufgebaut und abends einfach stundenlang den Ball hin und her geworfen. Wie Irre. Aber seitdem kann er fangen. Alles. (Okay, nicht alles. Wir waren bei vielen Länderspielen auf der Tribüne, und wenn ich sehe, wie die Herren sich zu zweit über die Breite des Feldes einhändig warmwerfen, kann ich nur staunen). Für die D Jugend jedenfalls.

Wenn ich die Jungs wie heute morgen spielen sehe und es läuft wirklich wirklich gut (er spielt Auswahlmannschaft, die können werfen und fangen), dann weiß ich ganz genau, wie es sich anfühlt, was gerade passiert. Das ist ein lustiger Effekt. Handball ist ein Sport, in dem sehr viel gefühlt wird, gerne Schmerz. Es gibt keinerlei Eleganz, alles geht wahnsinnig schnell, und es wird nie getrabt. Stehen (naja, nicht wirklich) oder sprinten, nichts dazwischen. Ona ist als Spieler die perfekte Kopie von mir, er spielt sogar auf der gleichen Position. Ich habe zeitlebens halb rechts und Kreis gespielt, da ich groß war und geworfen habe wie ein Kerl. Ich war nicht schnell, Ona wäre schnell, er könnte aber noch an seiner Reaktionsschnelle arbeiten, ist aber noch viel Zeit, ich war auch nicht wendig, ich war auch wirklich keine Ballkünstlerin, aber wenn ich zum Wurf kam, war halt Tor. Viele Jahre lang habe ich grundsätzlich alle 7 Meter geworfen, im Nachhinein vermutlich auch nur ein Symptom meines Hangs zur maximalen Effizienz.

Handball tut weh, und auch da kann man nix werden, wenn man nicht lernt, sich zu trauen. Wer full speed auf eine böse guckende Abwehr zuläuft und dann entscheidet, einfach drüber zu werfen, der weiß, dass es gleich wehtun wird. Wer weiß, dass man jetzt einen Freiwurf braucht, sucht ein Foul (quatsch, ist ja verboten!), takes one for the team, und steht wieder auf. Mehrere Meter Hautschichten lässt man über die Jahre auf dem Hallenboden zurück, und wenn man nicht geblutet hat, hat man nicht gespielt. Das ist natürlich sehr überspitzt, aber es ist halt nicht Babykatzenstreicheln. Ich weiß nicht, wie man das lernt und welche Prozesse ablaufen, aber über die Jahre hat man raus, was wo gleich weh tut, und dann ist man vorbereitet und macht das Tor dennoch. Ich war dreimal schwerer verletzt, und ich habe einer Torfrau beim 7 Meter die Nase gebrochen. Mitten in den Ball gesprungen, dann umgefallen. Das ist über 25 Jahre her, ich träume das Bild aber noch manchmal. Am Kreis wird gekniffen, getreten, geschubst und an den Haaren gezogen. Ich trug viele Jahre eine 12mm Frisur. Weil der Sport an sich schon so körperlich und verletzungsintensiv ist, halte ich in Onas Alter übrigens für eine der Hauptaufgaben, den Kindern Fair Play beizubringen. Weh tut es auch so, aber wenn bewusst unfair gespielt wird, ist die Schwelle zu gefährlich schnell überschritten. Jonathans Trainer sind hart aber extrem sportlich, und da kann man etwas lernen, was weit über den Sport hinaus trägt. Nicht alle machen das so.

Es tut aber nicht nur weh, sonst würde es ja keiner machen. Es gibt die Momente, die unfassbar viel Adrenalin freisetzen und belohnen für alles, was man an Hautschichten verloren hat. Wenn man einen Spielzug mit vielen Stationen so oft zuhause trainiert hat, dass man im Spiel einfach blind genau weiß, wann man losläuft, wo der Ball kommt und wann man wirft, und wenn das gut klappt, macht man das zwei Angriffe später noch mal, und manchmal hat man einen Spielzug, mit dem man den Gegner zigmal hintereinander verzweifelt stehen lässt. Das ist großartig. Oder das Gefühl, wenn man im Tempogegenstoß ganz entspannt mutterseelenallein auf das Tor zuläuft und weiß, dass die Torfrau sich gerade denkt „Okay, moment, ich geh zur Seite“, und wenn man dann freundlich lächelnd auf sie zuspringt, dann ist das kaum zu übertreffen. (Wenn man den dann verwirft, weil man zu überheblich war, möchte man übrigens sofort sterben.)

Und man lernt, sich zurück zu nehmen. Das ist für Ona eventuell das Schwierigste. Jeder will gerne selber das Tor werfen, gerade mit 11. Aber manchmal steht man im Angriff halt vor jemandem, an dem man schlecht vorbei kommt, und der Nachbar steht frei. Dann muss man abspielen. K., der Spielmacher in Onas Team, war heute on fire. 11 Tore in der ersten Halbzeit, die meisten nach Onas Pass. Ein Elfjähriger ist nach dem Spiel dann traurig. Im Mannschaftssport ist aber ja das Ziel, dass die Mannschaft gewinnt, und wenn man 20-8 gewinnt, muss man nicht traurig sein, dass man selber nicht getroffen hat, sondern nur mit vorbereiten durfte. Kann man auch schon wieder was lernen.

Das ist übrigens im Handball eine interessante Hybris: Bei aller Aggression und Verbissenheit, bei aller überbordender Körperlichkeit, muss jeder auf dem Feld sich maximal zurücknehmen können, denn ab einem gewissen Level gehen Alleingänge nicht mehr durch. Es gibt Kinder, die technisch hervorragend sind und es nicht in die Auswahl geschafft haben, da sie nicht gut zu steuern sind. Für Einzelkämpfer gibt es wenig Toleranz, es wird über 6 Stationen gespielt, und da muss jede Station das machen, was insgesamt hilft. Und nur einer wirft, das ist halt so.

Jetzt, wo ich so das Ende herbeisehne, ist ja auch schon spät, wird mir klar, dass es jetzt eine sehr elegante Wendung gewesen wäre, wenn ich irgendwas Kontrastives mit Fußball zum Abschluss gemacht hätte. Da ich aber ja nichts über Fußball weiß (ich kenne allerdings die Abseitsregel und kann das Standardwerk So werde ich Heribert Faßbender: Grund-, Aufbau-, Meister- und Zukunftswortschatz Fußballreportage nahe zu auswendig), muss das leider ausfallen. Fazit: Handball tut weh, aber man kann viel lernen.

Nachtrag.

Natürlich weiß ich was über Fußball. Nämlich dass für eine Handballerin so ein am Boden liegender leidender Italiener wirklich saukomisch ist.
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