Ach ja. Nachdem ich im Laufe von 2021 ja äußerst unsicher war, ob das dominierende Gefühl in mir dieses Jahr Wut oder Trauer ist, kommt jetzt ein sehr ambitionierter Wettbewerber hinzu: Scham. Das Tolle an Scham ist ja, dass sie so ein versatiles Gefühl ist, bestens anwendbar bei sich selber, gerne aber auch bei anderen Personen, vielleicht sogar passend für eine ganze administrative Einheit oder – im Vorgriff auf September – ein gesamtes Land. Ich plane, mich in der nächsten Zeit vollumfänglich zu schämen, und das sogar völlig unabhängig von der Frisur.
Ich habe ein schönes neues Wort gelernt, das – ähnlich wie die Scham – auch sehr versatil ist und auf verschiedene Themengebiete angewendet werden kann, gefunden auf Twitter bei Birgit Schmeitzner: Politiksimulation.
Ich selber habe ja eine sehr naive Vorstellung von Politik, und die sieht so aus: Ich habe ein Weltbild und eventuell eine Vision, vielleicht sogar ein bisschen Lebenserfahrung und kenne mich in irgendwelchen Themen gut aus, dann werde ich Politikerin, weil ich gut bin in Plakatekleben werde ich dann Ministerin, da gestalte ich dann was immer gerade in dem Land gestaltet werden muss, im Zweifelsfall gibt es sogar eine Krisensituation, nehmen wir mal rein hypothetisch eine Pandemie oder einen vermurksten NATO-Einsatz, und da ich aufgrund meiner Kompetenzen dafür ausgewählt wurde, die Verantwortung zumindest in Teilen dafür zu übernehmen, mache ich das dann nach bestem Wissen und Gewissen, und dann, wenn ich was gemacht habe, wovon ich als Fachfrau überzeugt bin, dass es richtig ist, weshalb meine Partei oder Koalition das dann übrigens auch mitträgt, dann stelle ich mich anschließend vor irgendwelche Kameras und erkläre der Bevölkerung, warum ich das jetzt gemacht habe und warum das total vernünftig ist. Und weil ich ja gut nachgedacht habe und zu vernünftigen Ergebnissen gekommen bin, kann ich das dann gut erklären, und dann verstehen einige Bürger*innen mich und wählen mich einfach wieder. So stelle ich mir das vor.
Eine leise Stimme in mir flüstert aber – zumindest, seit ich das Wort kenne – ständig „Politiksimulation“. Und die sieht so aus:
Ich bin jung, habe mich irgendwie durch ein Studium geschleppt, parallel habe ich Plakate geklebt, und mein größter Wunsch ist „Bundestagsabgeordnete sein“. Am Ende des Studiums habe ich mich eventuell so bewährt, dass ich statt Karl Lauterbach einen sehr guten Listenplatz bekomme, und schwupps, bin ich im Bundestag. Oder im Landtag, ist ja egal. Da ich in Düsseldorf wohne, eigentlich lieber im Landtag. Da ich vielleicht noch weiter aufsteigen möchte, schreibe ich entweder selber eine sehr schlechte Doktorarbeit, oder ich lasse eine schreiben, das ist ja viel einfacher, und dann gehe ich von Gremium zu Gremium, gucke, dass ich bei möglichst vielen Leuten einen gut habe, und irgendwann kommt mein Moment und ich werde Ministerin für das, was noch frei ist. Im Prinzip ist ab dann alles sehr gut, ich kann mich durchonkeln, was jetzt allerdings nicht passieren darf, ist eine Krisensituation, das wäre doof. Dann tritt die ein, ich habe aber ja weder die eigene Erfahrung, noch kann ich sinnvoll bewerten, was andere Leute mir erklären, also brauche ich ein Leitsystem für meine Entscheidungen, das sehr niederkomplex ist. Ich orientiere mich im Großen und Ganzen an drei Parametern: 1) Parteiräson (wahlweise Koalitionsräson), 2) Abgrenzung vom politischen Gegner und 3) Was will die Wählerin wohl genau jetzt von mir hören. Und danach entscheide ich einfach alles weg. Partei und Koalition sind mit dem Ergebnis sehr zufrieden, der politische Gegner ist höchstens unterrascht, und bei den Bürger*innen gibt es ja eigentlich nur zwei Herausforderungen: A) Ich muss irgendwie kohärent erklären können, warum die Schulen genau bei einer Inzidenz von 165 geschlossen werden sollen, obwohl wir eigentlich mal 35 gesagt hatten, da müsste es ja bestenfalls ein begründetes Argument für geben, und B) wenn der Wind sich dreht, muss ich mich eben geschmeidig und flexibel zeigen und vielleicht erst einmal einen Antrag des politischen Gegners ablehnen (aus Grund 2) und mich dann hinstellen und fordern, dass das jetzt alles schnell gehen muss, das sei ja alles eine große Katastrophe (aus Grund 3). Onkel onkel onkel. Politiksimulation.
Wenn es dann gut läuft, lässt der politische Gegner den Elfmeter liegen, niemand liest den echten Antrag und ich komme bei lauter werdenden Stimmen, die an das ursprüngliche Versagen erinnern, durch mit dem Argument „stimmt ja gar nicht“. Ganz häufig funktioniert das sogar. Wenn es schlecht läuft, haben wir in den eigenen Reihen so unangenehme Leute mit Meinung und Rückgrat, die dann auf diesen ebenso unangenehmen Sozialen Medien einfach sagen, was Sache ist, mit denen muss ich dann hinterher reden, so geht’s ja nicht. Mit dem hier zum Beispiel. Wenn es ganz schlecht läuft, rasen wir mitten in einer Krise auf eine Wahl zu, das ist dann der Moment, an dem meine Kolleg*innen das nächste Level freischalten. Jetzt muss ich also gleichzeitig die Parteiräson einhalten UND mich in Durchsetzungskraft, Empathie oder irgendwelchen anderen Parametern von den Kolleg*innen unterscheiden. Niedersachsen macht alles auf? Okay, ich mach alles zu. Auf der gleichen Datenbasis, wohlgemerkt, aber das ist egal, meine Bürger*innen wollen lieber alles auf haben. Baden-Württemberg verhängt eine Ausgangssperre? Dann muss ich stattdessen Testpflicht für alle im Küchenstudio einführen, im Prinzip sollte das auch wieder ganz einfach sein. Dummerweise versteht die Bevölkerung dann nicht mehr, was ich mache, aber wenn ich einfach ein Theaterfestival eröffnen gehe, dann hab ich ja wieder alle mit Kulturhintergrund besänftigt. So einfach ist das.
Und so spielen wir also Politiksimulation, das kann eigentlich jede*r, es geht ja zu keinem Zeitpunkt um irgendwelche Inhalte, Menschen, Krisen, Humanität oder – Gott bewahre – Logik. Und wenn man die Performance der Simulanten dann mit echten Berufen vergleicht, ist der Job eventuell viel zu gut bezahlt.
Glauben Sie nicht? Tja, hätte ich auch nicht geglaubt.