Ich möchte mit Ihnen über das Gendern sprechen. Und zwar in der Rolle der frühemeritierten Linguistin. Das scheint mir an der Zeit zu sein, denn ich höre in den letzten Tagen und Wochen immer häufiger das Argument, man könne aus „grammatischen Gründen“ leider nicht gendern, oder es sei einfach nicht schön und man habe Angst um die Sprache. Ich möchte beruhigend auf die Menschen, die sich über diese Dinge Sorgen machen, einwirken. Es ist alles gut.
1) Die deutsche Grammatik
Hier möchte ich erst einmal ein bisschen Terminologie einführen, damit alle Interessent:innen sich in zukünftigen Ausgaben von Markus Lanz ein bisschen trittsicherer präsentieren können. Wir müssen unterscheiden zwischen „grammatisch“ und „grammatikalisch“. Oder besser noch: Ich steige eine Haltestelle vorher ein und erkläre, wie ich „Grammatik“ verstehe, es ist nämlich so, dass die Sprachwissenschaft ein echtes wissenschaftliches Gebiet ist, und als solches sind Begriffe anständig definiert und differenziert. Ärzt:innen haben auch ein recht großes Repertoire für „Beule“.
Grammatik verstehe ich als die Lehre der morphologischen (also die Wortbildung betreffenden) und syntaktischen (also den Satzbau betreffenden) Regularitäten einer Sprache. Nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht noch die Phonologie, ja gut. Linguist:innen beschäftigen sich mit der Analyse dessen, was man beobachten kann, nicht mit der Normierung von Sprache. Das machen Deutschlehrer:innen, denn das ist ihre Aufgabe. Grammatik
(im strukturalistischen Sinne) beschreibt also das Regelsystem, das den Sätzen, die Sie formulieren können, unterliegt. Und dabei können wir manche Dinge sehr häufig beobachten, „der Mann“ zum Beispiel, und manche Dinge beobachten wir nahezu nie, „Mann der“ zum Beispiel. Die Dinge, die wir häufig beobachten, halten wir für „grammatisch“, also dem inhärenten Regelsystem des Deutschen entsprechend, „Mann der geht nach Hause“ ist ungrammatisch, da das Regelsystem des Deutschen vorsieht, dass ein Artikel vor einem Substantiv steht. Das ist grammatikalisch, also die Grammatik betreffend, im Deutschen so der Fall. Also – for the time being:
Grammatik: das inhärente, beobachtbare Regelsystem einer Sprache
grammatikalisch: das beobachtbare Regelsystem einer Sprache betreffend
grammatisch: dem Regelsystem einer Sprache entsprechend
Haben wir das schon mal laiendefinitorisch geklärt. Der allergrößte Teil der Linguist:innen befasst sich ausschließlich mit diesem beobachtbaren Regelsystem einer Sprache, nicht mit der Normierung dessen. Die Begriffe „richtig“ und „falsch“ kommen in der täglichen Praxis üblicherweise nicht vor, das ist nämlich ein von Menschen obendrübergestülptes Bewertungssystem, welches komplett losgelöst ist von der Frage, wie Sprache funktioniert. Und – und das kann ich kategorischer formulieren – niemand beschäftigt sich wissenschaftlich mit der Frage, ob etwas schön oder nicht schön ist. Es gibt sehr viele konkurrierende Prinzipien, die auf Sprachstruktur einwirken. Die Frage, ob konservative Politiker:innen etwas schön finden, ist keines davon. Da kann ich Sie beruhigen.
Nicht wenige Linguist:innen beschäftigen sich mit dem Sprachwandel, und das aus gutem Grund. Sprache ist kein starres System, sie verändert sich kontinuierlich. Und dabei gibt es Veränderungen, die auch Laien nicht vorenthalten bleiben, zum Beispiel neue Wörter, die aus anderen Sprachen entlehnt werden. Das führt nicht selten zu Ungemach, zum Beispiel bei Mitgliedern des hochrelevanten Vereins (zum Erhalt der) deutsche(n) Sprache, die dann nicht schön finden, dass jetzt alles immer Englisch ist, aber die Gemeinschaft der Sprecher:innen hat sich ungemerkt aber deutlich darauf geeinigt, dass wir Motherboard sagen und nicht Mutterbrett. Ist jetzt so, müssen wir nicht mehr diskutieren. Andere Veränderungen passieren über lange zeitliche Distanzen und führen auch zu Unmut, sind aber dennoch nicht aufzuhalten. Brauchen ohne zu. Wegen dem Winter. Ein schönes Beispiel ist weil + Hauptsatz. Ich habe in der Schule noch gelernt: Weil + Nebensatz, denn + Hauptsatz. Da war die Verschiebung in Richtung weil + Hauptsatz schon in vollem Gange. Dann kam irgendwann Danone mit „Weil er ist gesund“, dann ganz viel Unmut, jetzt ist es 2021 und weil + Hauptsatz wird zumindest von mir nicht mehr angezweifelt. Andere Sprachen haben genau die Verschiebung vorgemacht, wir sind da kein Einzelfall. Hat mit einer deutlich größeren Strukturverschiebung zu tun, die wir auch nicht aufhalten werden, nämlich SOV zu SVO, aber das ginge zu weit.
Oder der Verfall der Kasusmarkierung. Der Dativ blabla Genitiv blabla. Wenn wir uns die beiden nächsten Verwandten des Deutschen ansehen, stellen wir fest: Haben die schon länger durch. Englisch: Kasusmarkierung eingetauscht gegen starrere Satzmuster, ganz ganz lange her. Niederländisch: Kasusmarkierung eingetauscht gegen starrere Satzmuster, mittellange her. Deutsch: Mitten im Prozess, an vielen Stellen bereits ablesbar, alles nur noch eine Frage der Zeit. Kann man jetzt gegen wettern, wird aber nicht helfen. Rudi Keller hat es einst mit dem Prozess der unsichtbaren Hand erklärt, oder dem Stau aus dem Nichts. Wenn es etwas gibt (und die Gründe sind sehr mannigfaltig), was die Sprecher:innen eines Sprachsystems erreichen wollen (oftmals Ökonomie, Differenzierung oder – Obacht! – die Sicherstellung, dass eine Äußerung korrekt verstanden wird), dann rollt der Zug los, und darüber kann man sich ärgern, bremsen kann ihn niemand mehr. Und eine Sache ist übrigens universell: Sprache als System wird durch solche Veränderungen nicht einfacher oder schwieriger oder komplexer oder weniger komplex. Das Englische hat vielleicht keine morphologische Kasusmarkierung mehr, dafür hat es Satzbaumuster, die strikter geregelt sind als die in kasusmarkierenden Sprachen. Eine Form von Komplexität wurde also lediglich gegen eine andere Form eingetauscht.
2) Sprachwandel
Sprachwandel ist für Linguist:innen dieser Welt niemals ein Zeichen von Verfall, Verrohung oder Verlotterung, sondern einzig und allein die Normalität. Es gibt im Prinzip nichts Spannendes mehr darüber zu sagen, was nun noch passiert, ist Inventarisierung, Beschreibung, Erklärung. Bricht sich nun also ein neues sprachliches Phänomen Bahn, passiert sowohl „in der Grammatik“ als auch „für die Linguistik“ exakt gar nichts. Neue Dinge können beschrieben werden, und das ist ja erst einmal schön. Sonst: Nüscht. Alle schlafen gut.
Ein letzter Punkt, der noch fehlt, ist der folgende: Die allerallerwenigsten Linguist:innen auf der Welt interessieren sich für die Schreibung von Sprache. Wie man etwas schreibt, ist ein Artefakt, das hat nichts mit „Sprache“ an sich zu tun. 1998, ich studierte noch, saß ich in einem Hauptseminar der Allgemeinen Sprachwissenschaft zum Thema Rechtschreibreform, gut besucht von vielen Teilnehmer:innen aus dem Studium im Alter, und es ist nicht auszuschließen, dass mich das bereits so radikalisiert hat, dass ich 23 Jahre später diesen Text schreiben muss. Ich erinnere mich an eine leidenschaftlich geführte Diskussion, wie sehr es der Sprache schade, wenn in einem Liebesbrief nicht mehr unterschieden werden könne zwischen „viel geliebte“ und „vielgeliebte“ Erika. Mein nach langer Zeit ins Rennen geschicktes Argument, das könne man ja in der gesprochenen Sprache auch nicht, da müsse halt aus dem Kontext herausgefunden werden, womit wir es zu tun haben, verpuffte, und mit ihm mein Interesse daran, wie Dinge geschrieben werden. Manche Sprachen passen die Schreibung aus einem Reglementierungswunsch heraus regelmäßig an (Deutsch), manche halt nicht (Englisch. Man sagte zu Chaucers Zeiten übrigens „Knicht“, so wie Sie es jetzt gelesen haben, und darum schreibt man halt heute noch „knight“. Ist halt so. Emotional uninteressant. Weiter im Text.)
Aber wir wollten ja über das Gendern sprechen, und vielleicht schaffe ich es ja, die bislang besprochenen Punkte wieder sinnvoll zusammenzuführen. Ich beginne mit einer kurzen Inventarisierung.
3) Gendern
Wir kennen das generische Maskulinum. Wenn Sie sich näher damit beschäftigen wollen, können Sie zum Beispiel hier ein wenig nachlesen. Aber im Grunde ist es ja so:
– „Genus ist nicht gleich Sexus“ ist deutlich zu einfach. Zu argumentieren, grammatisches Geschlecht habe nichts mit biologischem Geschlecht zu tun, ist inzwischen anhand diverser Studien mit ganz unterschiedlichen Versuchsaufbauten widerlegt. Ich hatte schon öfter auf die Arbeiten von Lera Boroditsky verwiesen, bei YouTube finden Sie viel dazu. Wenn ich sage „der Arzt“ und die Ärztin mitmeine, dann eröffne ich damit ein Bild, in dem ein Mann der Arzt ist. Das ist so, das habe ich mir nicht ausgedacht, so funktioniert unser Gehirn. Dummerweise spielen dem generischen Maskulinum zwei Faktoren in die Karten, einer davon ist sogar sprachtypologisch universell: 1) Gesellschaftliche Tradition, wir leben nun einmal in einer Kultur, in der die Ärzte den allergrößten Teil der Geschichte Männer waren und 2) Sprachökonomie. Die weiblichen Formen auf -in sind länger, haben eine Silbe mehr. Sprecher:innen sind faul, und Sprachökonomie ist einer der härtesten Treiber, die es gibt. Alles läuft immer auf Einsparung und Vereinfachung raus. Deshalb sind die generischen Formen immer die, die kürzer oder weniger komplex sind. In unserem Fall also die männliche. Dass dies über viele Jahrhunderte, in denen die Stellung der Frau oder überhaupt all derer, die nicht Mann waren, keinen großen Gestaltungsspielraum ermöglichte und zudem auch nicht bewusst und offen diskutiert wurde, als gegeben hingenommen wurde, ist vollkommen nachvollziehbar, bedeutet im Umkehrschluss für die heutige Situation allerdings rein gar nichts.
Wir können also sowohl kulturell als auch linguistisch hervorragend verstehen, warum wir ein generisches Maskulinum haben, nichts anderes hätte ich erwartet. Aber.
4) Und jetzt?
Wir sind jetzt, oder auch schon in den 1980er Jahren, als Luise Pusch und Senta Trömel-Plötz erstmals das Thema auf die Agenda brachten, jetzt aber nun mal wieder, an einem Punkt, an dem kulturelle Entwicklungen auf vielen anderen Ebenen bewirken, dass ein Modell, in dem alle außer Männern mitgemeint sind, sich nicht mehr zeitgemäß anfühlt. Stärker noch: Viele Menschen möchten das nicht mehr. Viele Frauen möchten nicht mehr mitgemeint werden, da sie das berechtigte Gefühl haben, dass – wenn wir immer über Professoren sprechen und Professorinnen mitmeinen – sie Gefahr laufen, vielleicht mitgemeint, aber nicht mitgedacht zu werden. Und da haben sie recht. Auch dazu gibt es viele Untersuchungen, und sogar einen anekdotischen Test.
„Here?s an old riddle. If you haven?t heard it, give yourself time to answer before reading past this paragraph: a father and son are in a horrible car crash that kills the dad. The son is rushed to the hospital; just as he?s about to go under the knife, the surgeon says, ?I can?t operate?that boy is my son!? Explain. (Cue the final Jeopardy! music.)
If you guessed that the surgeon is the boy?s gay, second father, you get a point for enlightenment, at least outside the Bible Belt. But did you also guess the surgeon could be the boy?s mother? If not, you?re part of a surprising majority.“
Nehmen wir mit: Mitgemeint ist nicht mitgedacht. Das führt zu Benachteiligung. Und die führt zu nachvollziehbarem Unwohlsein und Unmut bei vielen Menschen, und das sollte nun beantwortet werden. Eine Lösung muss her. Ich komme kurz zurück zu Rudi Keller. Der Zug ist losgefahren, und da kann sich Friedrich Merz jetzt Sorgen machen, oder Herr Ploß kann das verbieten, und Sigmar Gabriel kann vorschlagen, dass nicht die Union, sondern der Rat für deutsche Rechtschreibung unsere Sprache weiterentwickeln soll… Nichts davon ist in irgendeiner Form außerhalb der Politik und des Wahlkampfs relevant, und nichts davon wird irgendeinen Einfluss darauf haben, wie es sprachlich weitergeht. Wir können nicht mehr zurück auf Los, der Fisch ist gegessen. Nichts davon berührt in irgendeiner Form die Grammatik des Deutschen abseits des Erwartbaren, und nichts davon lässt Linguist:innen nachts im Bett unruhig hin und her rollen. Außer vielleicht einer Gruppe armer Soziolinguist:innen, die sich verzweifelt fragen, wie diese Diskussion abgewendet werden könnte.
Denn Fakt ist: All die Menschen, die sich nicht im generischen Maskulinum mitgenannt fühlen, benötigen eine Alternative. Wie die aussieht, können wir noch nicht genau vorhersagen, und ob wir zukünftig immer Doppelpunkte oder Sternchen oder was auch immer schreiben, wäre mir sogar vollkommen egal. Aber es wird sich verändern, und es wird den normalen, sprachlichen Prinzipien unterworfen werden. Daher bin ich ja große Freundin des Glottal Stop, also der Unterbrechung in der Lautkette Lehrer – innen. Das ist sehr wenig invasiv, deutlich ökonomischer als das langgepflegte Lehrerinnen und Lehrer, das ja in 90% der Anwendungsfälle ökonomisch ausgesprochen wird als „Lehrer und Lehrer“. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich diese Form der Differenzierung durchsetzt, denn sie passt sehr gut in das grammatikalische Prinzipiengerüst. Die Frage, ob oder ob nicht überhaupt etwas geändert wird, ist übrigens keine Frage der Grammatik, sondern eine Frage der Gleichberechtigung. Ignorieren zu wollen, dass große Gruppen der Bevölkerung sich benachteiligt oder eben genau nicht mitgemeint fühlen, ist ebenso keine Frage der Grammatik, sondern eine des schlechten Stils. Wenn ich als Frau sage, dass ich mich als Frau durch etwas benachteiligt, ausgeschlossen oder unsichtbar gemacht fühle, wer ist denn dann Friedrich Merz, zu argumentieren, dass er die Alternative dazu „nicht schön“ findet? Wissen Sie, was ich nicht schön finde? Bilder von Rembrandt. Und ist das irgendwie wichtig? Sehen Sie.