An mehreren Stellen musste ich heute an Situationen aus meinem Arbeitsleben denken, also entschloss ich mich dazu, diese alle zu bündeln und unter dem thematischen Dach „Crazy people I met on the job“ zu publizieren. Nun ja, dann dachte ich stundenlang im Hinterkopf darüber nach, was ich alles weglassen muss, immerhin hätte ich ja Material für ein Buch. Das mag meinem komplizierten Werdegang geschuldet sein. Die Jahre des Studiums lasse ich weg, wenngleich ich mit 3 Jobs, die aber alle irgendwie lustig waren (Laufschuhe verkaufen im Sportladen, da kann man doofe Leute vom Laufband fallen lassen, wenn man schlecht behandelt wird, würde aber ja keiner machen), feste Freie bei einer Tageszeitung, (wo mir einst ein Volo angeboten wurde, das ich ablehnte, weil ich ja einen anderen Beruf ergreifen wollte, und wo ich dann folgerichtig erklärt kriegte, ich würde mich noch mal nackt an den Schreibtisch ketten und um einen Job betteln (nicht passiert)), und Fremdsprachenkurse an der Volkshochschule, (der Job, in dem ich lernte, ich möchte nichts mit Menschen machen). Da waren auch Irre, aber es gab keinen strukturellen Phänotyp. Daher spulen wir vor: Examen, erster Job.
Der Job war doof. Der Professor, der mir dankenswerterweise eine halbe beschissene Mitarbeiterstelle irgendwo rauserpresst hatte, war selber gar nicht so interessiert an Arbeiten, muss man aber ja auch nicht, wenn man Mitarbeiter hat. Von den Kollegen, die dort mit mir versucht haben, zu promovieren, hat niemals jemand die Arbeit je fertig geschrieben. Aber ich wollte über Irre sprechen. Der Sprung ist kurz. An dem Institut gab es damals 4 Linguistik Professoren, keiner spielte irgendwo außerhalb seines eigenen Proseminars für irgendetwas irgendeine Rolle. Publiziert wurde gar nicht oder schlecht, und die gesamte Energie wurde in Kämpfe untereinander gesteckt. Keine Sekunde konnten die 4 in einem Raum oder einer Gremiensitzung sein, ohne dass sofort die ganze Welt implodierte. Das Interessante daran: Hauptmotor war Eitelkeit. Jeder was so eitel, so egozentrisch, dass die Anderen, die sich übrigens alle sehr stark thematisch unterschieden, keine Daseinsberechtigung hatten. Sobald man mal aus dem Orkus raus war, merkte man schnell, dass von den Vieren eigentlich keiner eine Daseinsberechtigung hatte, weder in Lehre, noch in Forschung. Gremienarbeit auch nicht, das musste ja an die Mitarbeiter ausgelagert werden wegen Krieg. Ich fand das alles sehr schwierig damals, muss aber im Nachhinein betrachtet sagen: Das waren schlechte Irre, die sich fürchterlich benahmen, weil ihnen der unverdient geführte Titel zu Kopf gestiegen war. Mehr kann man dazu eigentlich gar nicht sagen, die waren langweilig. (Bitte fühlen Sie sich ermutigt, in den Kommentaren ausführlich den Unterschied zwischen Titel und Grad zu besprechen. Ich hab Dr. und Prof. beide getragen und weiß, dass da irgendwas kompliziert war, aber unterm Strich ist es auch wirklich egal.) Was ich übrigens in den folgenden Jahren an ausländischen Universitäten nie mehr angetroffen habe, war der Wunsch, mit irgendwelchen Titeln oder Graden angesprochen zu werden. We just don’t do that.
Nach einem Auffahrunfall mit einem Karmann Ghia wechselte ich das Land und landete aus Versehen mitten in der echten Wissenschaft. Also bei den Leuten, deren Bücher ich im Studium lesen mussten, die das Feld international anführten. Und dort lernte ich eine neue Kategorie Irre kennen: die guten Irren. Meine erste Station führte mich zurück in die Niederlande, und dort fand ich ein sehr internationales, ausnahmslos großartiges Kollegium vor. Alle. Wirklich alle hatten irgendwo einen an der Waffel, aber immer charmant und immer in Kombination mit hervorragender, bahnbrechender Arbeit. Vermutlich hatte ich auch einen an der Waffel, zumindest passte ich mich in allerkürzester Zeit an. Ich erinnere mich an ein Mittagessen in Woche 2 mit Kollegen, als eine Professorin an unseren Tisch kam, vor der alle Angst hatten. Sie sah mich an und sagte: „Who are you?“ Ich antwortete brav und sagte: „And who are you?“ – „You don’t know that? Well, I like you. Let’s have coffee later.“ Natürlich wusste ich, wer sie war, aber Angst darf man nicht zeigen, und bis zum Ende war sie eine meiner engsten Vertrauten dort. Sie war ganz großartig, sehr warm, sehr empathisch, aber nur mit Türe zu beim Kaffee. Doktorandin von Chomsky, dem größten Irren aller Zeiten (ja, ich weiß, Sie kennen ihn als Politiker, da mag er top sein. Als Mensch ist er ein absoluter Totalschaden) und alle, unter oder neben denen ich in den nächsten Jahren gearbeitet habe, kamen direkt vom MIT und hatten anscheinend das gleiche Trauma davongetragen. Nur, wer so aggressiv sein konnte wie er, konnte bestehen. Innerhalb von zwei Wochen hatte ich mir übrigens einen Beinamen erarbeitet, den ein anderer Professor beim Kennenlernen sagte: „Oh, jij bent het meisje met de mening“, du bist das Mädchen mit der Meinung. Er meinte das nett, irgendwann habe ich aber darum gebeten, nicht mehr so genannt zu werden. Ich war erstens mit 27 eventuell nicht mehr „das Mädchen“, und das Vertreten einer Meinung, oder sagen wir vielleicht lieber eines Standpunktes, ist ja eine zentrale Aufgabe in der Wissenschaft, folglich fand ich die Bezeichnung redundant. Der zweite Punkt, wo ich sicherlich nicht ganz normgerecht auftrat, war meine immense Flugangst, die dazu führte, dass ich im ersten Jahr nur begleitet fliegen durfte, weil mein ausgeprägter Fluchtinstinkt nicht erlaubt hätte, alleine in ein Flugzeug zu steigen. An dieser Stelle danke ich den Vereinigten Staaten von Amerika sehr, die so nett waren, mich auf die TSA No Fly Liste zu setzen, was bewirkte, dass ich in allerkürzester Zeit von ‚fear of flying‘ zu ‚fear of immigrating‘ wechselte und jede Sekunde genoss, die ich in der Luft verbrachte. Aber das hebe ich mir für ein anderes Mal auf (oder hatten wir das hier schon? Das kann Frau N. sicher sagen.)
Im Vergleich mit der ersten Uni fand ich dort ja sehr interessant, dass in der Sekunde, wo man inhaltlich kämpfen kann, das auch getan wird. Die Lehrstühle waren sich untereinander auch nicht sonderlich gewogen, das hatte aber rein gar nichts mit Eitelkeiten oder Profilneurosen zu tun, sondern mit ernstzunehmenden inhaltlichen Divergenzen. Und die konnten beim Bier immer gut aufgelöst werden.
Heute Morgen sagte ich noch zu Frau N., dass man manchmal Angst haben muss, um zu lernen, wie man mutig ist. Das habe ich in den ersten Jahren dort gut lernen können. Einmal war ich sehr mutig und äußerte eine kleine inhaltliche Kritik am großen Meister persönlich, was ihn so erzürnte, dass er mich coram publico „stupid, ignorant girl“ nannte. Das war mein Durchbruch. Wer es schafft, so auf Chomskys Radar zu fliegen, der muss ja für irgendwas gut sein. Folgerichtig durfte ich dann die nächsten Jahre im theoretischen Gegenlager bei meinem neuen Doktorvater in Stanford verbringen. Und hier bräuchte man jetzt ein Buch. Ich versuche, nur ein paar Rosinen rauszupicken.
Wir befinden uns ja auf einer Skala, wenn Sie gut aufgepasst haben. Uni 1: Schlechte bis keine Wissenschaft, viel Ego, viel Profilneurose. Krieg. Uni 2: Sehr gute Wissenschaft, wenig Profilneurosen, viele persönliche „Quirks“. Uni 3: Durchweg alle medikamentiert, aber alles, was dort aufgeschrieben wurde, war pures Gold.
Ich landete donnerstags in San Francisco, bezog meine Wohnung, schlief ein bisschen und fuhr freitags erstmals an die Uni. Jeden Freitag ist (oder war?) dort Kolloquium, da wird irgendeine Koryphäe eingeflogen, die spricht 90 Minuten zu den Mitarbeitern über neueste Erkenntnisse, danach wird (wurde?) indisches Essen geliefert. (An deutschen Unis ist ja auch immer Kolloquium, da sprechen einfach die Mitarbeiter selber und man bringt sich eine Flasche Wasser aus dem Büroschrank mit). Jedenfalls lief ich in den noch fast leeren Raum, in dem ich sein sollte und setzte mich in die letzte Reihe. Ich trug – und das ist wichtig – komplett schwarz mit roten höheren Schuhen. Vor mir saß die Frau, deren Hauptwerk ich im Examen bestimmt 10 mal gelesen hatte, die schlauste, tollste, beeindruckendste Frau der Welt. Inhaltlich. Sie drehte sich zu mir um, sagte hallo, ich sagte auch hallo, sagte kurz, dass ich ja die Neue sei, dann fiel ihr Blick auf meinen Schuh, und dann blieb sie etwa 2 Stunden in dieser Pose hängen. Umgedreht, Blick auf meine überschlagenen Beine, Fokus auf den Fuß. Ich kann das nicht mehr in Worte fassen, wie sehr ich sterben wollte. Mein europäischer Chef war auch schon wach und ich chattete ausführlich zu der Situation mit ihm, auflösen konnten wir sie nicht. Alle, die in den Raum kamen, fanden offensichtlich die Pose sehr normal, keiner guckte irritiert. Ich habe das in den nächsten zwei Jahren für mich zu nutzen gelernt. Wann immer ich einen Termin mit ihr hatte, den ich aus Gründen der sozialen Verpflichtung nicht gut vorbereitet hatte, lenkte ich sie mit irgendetwas ab. Ich kaufte mir sogar eine Kette, Schuhe sah sie unterm Schreibtisch nicht. Die ungeschriebene Regel war: Wenn sie nach 15 Minuten immer noch nicht reagiert, durfte man gehen.
Einmal fuhren wir alle zusammen nach Berkeley zu einer Konferenz, sie hielt die Keynote. Nun muss man noch dazu sagen, dass sie unter 1,60m groß ist und eine sehr zarte Stimme hat. Sie wurde hinter ein viel zu großes Pult gestellt, so dass sie ihre Aufzeichnungen nicht sehen konnten, wir sie aber auch nicht. Und dann redete sie 90 Minuten. Jeder andere hätte irgendetwas gemacht. Ich hätte zum Beispiel einfach einen Schritt nach rechts gemacht. Dann hätte man halt ohne Pult gesprochen. Sie war so nicht. Sie verharrte in dieser Position und sprach den Vortrag bis zum letzten Wort blind und unsichtbar durch. Einer ihrer Doktoranden, mit dem ich, naja, viel Zeit verbrachte, sagte mal irgendwann in einem Moment der Ruhe: „One day I’ll go into her office, and I’ll take an article from the A-shelf and put it back in in the c-shelf, and then she’s DEAD!“
Sie war sicherlich das äußere Extrem auf der Skala der guten Irren, aber sie schlug das restliche Personal wirklich nicht um Längen. Irrsinn hat viele Facetten, und die alle konnte man dort kennenlernen. Aber dennoch waren alle Leute großartig. Irre, aber großartig. Die andere Seite der Medaille war, dass jeder in seinem oder ihren Bereich unter den Top 3 weltweit spielte. Mindestens. Die Dame hinterm Pult ist unerreicht. Alles, was ich an Hirnkapazität aufbringen muss, um um das Pult zu gehen, ein Bier zu trinken, etc., spart sie sich für den nächsten Artikel auf. Alle hatten sich untereinander gern. Der Endgegner saß am MIT.
Um in so einer Umgebung bestehen zu können, hilft nur lesen, lesen, lesen, und jeden Tag Angst haben, dass man ab heute nicht mehr mitkommt. Um mich hin und wieder abzulenken, begann ich, lustige Biographien von Mathematikern zu lesen. (Nebenbemerkung: Meine Erdös-Zahl ist 5. Immerhin! Die von Frau Merkel übrigens auch.) Und dabei würde mir eine Sache sehr klar. Um solche unfassbaren intellektuellen Höchstleistungen zu erbringen wie die Kollegen dort, ist es sehr hilfreich, wenn man nichts auf der Welt hat, was einem den Fokus nimmt. Ich weiß gar nicht, wie viele Jungfrauen es dort gab, viele, tippe ich. Bier? No way, man muss ja noch denken. Irgendwann kam mein niederländischer Doktorvater mich besuchen, und ich teilte eine wirklich wichtige Einsicht mit ihm: Ich reiche nicht für hier. Ich kann zuhause gut mitspielen, aber ich muss auch mal ein Bier trinken können, und ich hoffe, dass ich Recht habe. Ich war nicht irre genug.
Abgeschlossen hab ich dennoch, bin dann zurück nach Europa zu den Mittelirren, und dann im letzten Schritt zurück auf Los, wieder nach Deutschland, zu den Profilneurotikern. Sie haben das damals alles verfolgen können, ich war eventuell nicht so offen, da ich ja immer auch ein bisschen vorsichtig sein musste, aber es war wieder genau gleich wie in Job 1: Mittelmäßige (na gut, immerhin) Forschung, viel Eitelkeit, viel Gerangel um vollkommen unwichtige Pöstchen, niemand profiliert sich durch seine Arbeit, sondern über sinnlose Abstimmungsergebnisse. Wer einmal in einem funktionierenden Forschungssystem gearbeitet hat, kann das nie mehr machen.
So. Das war lang. Und eigentlich fehlt jetzt ja noch der Teil, wo ich aus der Wissenschaft aus allen Gründen aussteige und in die Werbung oder so ähnlich gehe. Aber bei näherer Betrachtung möchte ich da nix zu sagen, weil ich ja mittendrin bin. Ich kann mich aber selbst zitieren, vor einigen Jahren, in einem Gespräch mit Frau N.: „Ich bin ja auch aus der Wissenschaft ausgestiegen, weil ich nicht mehr nur mit Irren arbeiten wollte. Die hier sind ja alle genauso irre, aber es fehlt ihnen die geistige Brillianz.“
Creep (STP, vorzugsweise unplugged)