27.10.2022

Ich stand gerade mit dem anderen Nachbarn im Flur vor dem Arbeitszimmer, da flog eine Motte an uns vorbei. Und an der guten Wolljacke vorbei. Und am guten Wollmantel vorbei. Wenn irgendwas mich nach meinem Mottenhorror 2021 in sofortige Schockstarre verfallen lässt, dann ist es der Anblick einer Motte in einem Bereich dieser Welt, in dem auch meine Kleidung sich befindet. Aus der stabilen Seitenlage zurück am Schreibtisch muss ich jetzt kurz ausruhen, zur Beruhigung streichele ich ein wenig über die Linoleumoberfläche vom Schreibtisch. Ich kann mir keine angenehmere, haptisch tollere Oberfläche für einen Tisch vorstellen.

Um mich von der Motte abzulenken und die Aufgaben, die alle noch erledigt werden müssen, bevor ich mit Frau N verreise, wollte ich doch noch in meine Erinnerung zurückrufen, was ich an lustigen Dingen in Prag erlebt habe. Ich habe nur schöne Erinnerungen an Prag und erzähle immer, dass dort so viele lustige Sachen passiert sind, allerdings fallen mir nicht mehr so viele ein, das ist vielleicht dieses Long Covid. Brain Fog. Man kann das ja alles nicht mehr auseinanderhalten. Neulich fragte mich eine Kundin, ob ich denn auch diese bleierne Müdigkeit seit der Infektion hätte. Ich habe kurz nachgedacht, kam zu dem Entschluss, dass ja, ich habe bleierne Müdigkeit, aber seit 1990. Durchgehend. Erst hatte ich ein Hobby, das dazu führte, dass ich in der Woche allabendlich erst um 23 Uhr nach Hause kam, dann duschen, noch was lesen, etc., morgens um 6.30 Uhr aufstehen. Da war ich immer müde. Aber sehr sportlich. Dann ging ich studieren, da musste ich nachts feiern und tagsüber studieren, an Schlafen erinnere ich mich im Rahmen des Studiums eigentlich nicht. Dann ging ich promovieren, das war gefühlt Studieren mit Gehalt, nur, dass ich tagsüber viel mehr Impostersyndrom hatte. Dann wurde ich schwanger, da ist man ja sowieso müde, dann war ich kurz sehr ausgeschlafen wegen Elternzeit und schlafendes Kind, dann war ich Mutter mit Baby und anstrengendem Job, dann war das Baby irgendwann groß, der Job dafür jedoch noch viel viel anstrengender, und das ist keine Beschwerde. Sonst wäre mir ja schlimm langweilig. Bleierne Müdigkeit verspüre ich also seit über 30 Jahren, und eventuell liegt es mehr am Leben als an mir, an Corona liegt es jedenfalls in meinem Fall nicht.

Und jetzt fiel mir doch eine lustige Geschichte ein: Ich war 2006 oder 2007 am Jahresende in Prag, genau weiß ich es nicht mehr, aber ich hielt einen Vortrag auf einer Konferenz. Ich war alleine angereist, ging am ersten Abend alleine ein bisschen durch die Stadt, betrat einen Laden, in dem man Internetanschluss hat (like, wer sich erinnert), und dann kamen drei offensichtlich amerikanische Supernerds auf mich zu, mein Alter etwa, und einer sagte: „Hey, let me guess. You are a linguist.“ Ich fragte, woher er das wisse, und er sagte: „You look like one.“

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