Heute ohne schwungvollen Einstieg. Streichen Sie das ‚heute‘.
Jonathan wollte im Schauspielhaus Odyssee sehen, das schien ihm interessant, und ich hatte es bislang vergessen, zu gucken. Also kaufte ich Karten und wir gingen hin, machten ein obligatorisches Fußfoto und gingen dann – inhaltlich außer einem gewissen Homer-Vorwissen sonst unvorbereitet – rein. Die obligatorische Brezel mit Rhabarberschorle und das Glas Sekt passte zeitlich noch rein.
Es dauerte nur etwa 5 Minuten, dann war ich insgesamt froh, dass ich wenigstens ein Glas Sekt getrunken hatte, mehr wären gut gewesen, denn ich fing an zu heulen, und dann heulte ich 1 Stunde 45 Minuten durch, ohne Taschentücher, ich hatte nur die kleine Miniserviette von der Brezel, die ich hektisch in die Hosentasche gesteckt hatte. Alle Frauen – ja, nur Frauen – um mich rum heulten auch, ich wollte aber kein Taschentuch schnorren, mir war klar, dass sie es nötiger bräuchten als ich.
Ich kenne diese emotionalen Aussetzer ja. Seit ein paar Jahren, ich weiß nicht, ob es mit der Geburt meines Kindes anfing, mir scheint aber, dass das zeitlich hinkommt, habe ich ja so komische Anfälle, die ich eigentlich nicht erklären kann. In Kirchen muss ich einfach durchgehend weinen, und das ist wirklich komplett unabhängig von Religion, ich glaube nur an Dinge, die ich statistisch bestenfalls selbst nachweisen könnte, aber setzt mich in eine Kirche und ich eskaliere komplett. Beerdigungen ähnlich, auch wenn ich die verstorbene Person kaum kenne. Einst war ich anwesend bei der Beerdigung eines sehr entfernten, jüngeren Kollegen, und ich musste während der Beisetzung so laut schluchzen, dass die Witwe beim Kondolieren wirklich sehr skeptisch guckte. Seitdem entschuldige ich mich immer bereits im Vorfeld bei der betroffenen Familie, offener Umgang ist da ein guter Weg.
Odyssee handelte vielleicht ganz tief unten drunter vom Warten Penelopes auf Odysseus, aber umgesetzt waren die Geschichten von ukrainischen Frauen, erzählt von ihnen selbst. Sieben Frauen erzählen orchestriert, was in ihnen vor ging, als sie an 24. Februar 2022 plötzlich mitten in einer Kriegssituation aufwachten. Was geht in einer Mutter vor, wenn man seine Kinder vor dem Krieg retten möchte. Das hat mich an einer sehr tiefen Stelle berührt, ich fing an zu weinen, und ich wusste, dass ich allerfrühestens bei den Standing Ovations wieder aufhören werde. Hab ich aber nicht. Irgendwann in der Bahn. Sieben Düsseldorfer Frauen – auch allesamt Laiendarstellerinnen – erzählten indes mit der Stimme von Frauen, die in der Ukraine geblieben waren und Interviews gegeben hatten. Zwei Frauen, die von zig russischen Soldaten vergewaltigt worden waren, eine Frau, deren Sohn vor dem Hochhaus zu einem Tankwagen ging, um Trinkwasser zu holen und dann von einem Bombensplitter getötet wurde. Zwei junge ukrainische Musikerinnen, 17 und 19, die sangen und Gitarre spielten und erzählten, wie die eine mit acht Menschen in einem Auto von Butscha nach Düsseldorf gefahren waren, mit Vater und Mutter, geschieden und verfeindet, und der neuen Familie des Vaters, für einen Moment musste man lachen, die Situation war zu absurd, und die andere, die mehr als 24 Stunden auf einem Bahnhof auf den Evakuationszug gewartet hatte, mit ihren drei Katzen, eine davon 300 Gramm aber verfeindet mit den anderen beiden, die jeweils sechs Kilo wogen, und weil sie nur zwei Transportboxen hatte, waren in der einen halt 300 Gramm Katze, in der anderen 12 Kilo. Dann fuhr endlich ein Zug, und sie stand eingepfercht zwischen hunderten von anderen Leuten, 16 Stunden lang, und zum Glück hatten sich alle Pampers angezogen, denn plötzlich begann sie zu menstruieren. Das traf mich auch sehr. Am zweiten Tag des Kriegs rief das ukrainische Konsulat auf, Dinge zu spenden, und ich fuhr los und kaufte Tampons und Binden, weil meine Theorie war, dass ich vermutlich alle Sachen einpacken würde, die mein Kind braucht, aber Tampons würde ich vergessen, und dann säße ich da in so einem Camp, und das wäre dann sehr doof.
Sehr bewegend auch die Frau, die heimlich vom Handy ablas. Eigentlich hätte sie erzählen sollen, wie sie in Spanien im Urlaub war mit ihren Sohn, als sie die Nachricht erreichte, dass Krieg ausgebrochen sei. Zwei Tage vor der Premiere des Stücks jedoch sei sie aus Irpin, ihrer Heimatstadt zurückgekehrt nach Düsseldorf, wohin sie mit ihrem Sohn geflohen war. Sie war zurückgefahren, um ihren Bruder zu begraben, damit das irgendjemand macht. Das würde sie lieber erzählen.
Ach, dachte ich. Das ist also eine von diesen ukrainischen Touristinnen, die in Deutschland Stütze kriegen und dann mit dem Flixbus schön in die Ukraine fahren, um unser Geld zu verjubeln, dachte ich. Lag Friedrich Merz ja gar nicht so falsch, die gibt es wirklich.
Es war schrecklich. Es war ergreifend und schrecklich. Ich könnte es kein zweites Mal gucken, so sehr hat mich das getroffen. Wie oft habe ich mir in den letzten 1,5 Jahren vorgestellt, wie es sein muss, wenn man aufwacht, es ist Krieg, ich will mein Kind retten und muss meinen Mann dort lassen, um unser Land zu verteidigen. Wie schrecklich muss das sein. Heute haben mir die Frauen, die das erlebt haben, die Flucht, den Verlust der Männer, den Tod der Kinder, die Massenvergewaltigungen, ja, die Frauen haben das heute einfach erzählt. Ganz souverän. Geweint haben viele von ihnen erst beim Applaus. Ich schlage vor, dass all die Deutschen, die finden, wir haben „zu viel Migration“ in Deutschland und „die kriegen ja alle viel zu viel Geld“ oder „man muss den Krieg jetzt mal beenden, man kann doch mal was mit Putin verhandeln“, ja, ich schlage vor, dass die sich das Stück ansehen. Und wenn sie dann nicht heulen müssen, noch nicht mal, wenn um einen rum Unmengen ukrainischer Witwen sitzen, die auch alle weinen. Ja, wenn man dann immer noch so denkt, dann kann man wohl nix mehr machen .
Am 21.10.2023 können Sie Odyssee noch einmal in Düsseldorf sehen. Oder schenken Sie doch eine Karte einem Nazi Ihrer Wahl.
Mich würde interessieren, wie J. die „Aufführung“ fand und wie er das weggesteckt hat. (Sehr unzufrieden mit dieser Formulierung, aber kein Hirn für bessere, Entschuldigung)
Nazi meiner Wahl.
Da gäbe es welche. Ich musste sogar eine Religionslehrerin maßregeln. Ein Kollege hat mich dann eingefangen.
Ich glaube , ich wäre rausgelaufen.
Man kommt an den Nazi seiner Wahl halt nicht ran, bzw. diese Erlebnisschilderungen interessieren ihn nicht, das sind in seinen Ohren alles bedauerliche Einzelfälle, da kann er ja schließlich nichts für, er leidet ja selbst unter der Situation, jedenfalls finanziell. Traurige Wahrheit: Wäre es anders, würden solche Zeugnisse etwas bei diesen Leuten bewirken, es gäbe seit Jahrtausenden keine Kriege mehr, nirgends.
Da hier so viel von Nazis geredet wird… Hier wäre eine(r).
Ich fühle mich angesprochen. Weil ich es vermutlich in aller Augen hier auf diesem Blog auch bin. Mit meiner Vita🙄.
Also. Wer mag mir eine Karte schenken? Ich war noch nie in Düsseldorf.
Ach, Christel, ich habe zwar noch nie zuvor von Ihnen gehört, aber aus irgendeinem Grund glaube ich, dass Sie noch nicht verloren sind (würden Sie sonst hier lesen?) und tatsächlich wäre ich deshalb bereit gewesen, Ihnen eine Karte zu spendieren. Ihre bisherige Vita ist für mich auch nicht wirklich interessant, im Gegensatz zu Ihrer vielleicht hoffnungsvolleren Zukunft. Darin würde ich gern investieren. Nur…Sie sind offenbar gar nicht erreichbar.
Ich bewundere diese Frauen unendlich. Wenn ich so etwas erlebt hätte und es erzählen sollte, würde mir die Stimme versagen, und zwar für Tage. Ich würde es nicht aushalten, darüber zu sprechen. (Und was den Nazi betrifft: ich habe mit solchen Leuten diskutiert, als ich dazu noch fähig war. Resultat: null, nichts, nada. Ich habe es aufgegeben. Die sind nicht mehr erreichbar. Völlig verroht.)