The State that I am in

2021. Jeden doofen Blogeintrag beginne ich mit 2021 und was da jetzt schon wieder alles neu ist, ich langweile mich schon fast selbst damit. 2021 sammele ich ja neue Wörter und Konzepte, okay, Exponentialfunktion kannte ich schon, geschenkt, Kipppunkt fand ich ein sehr schönes neues Wort für ein altes Konzept, zudem noch mit drei P, Politiksimulation habe ich neulich ja schon ausführlich verbloggt, und jetzt, so traurig es ist, kommt noch „moralisch verletzt“ hinzu. Auch das ist ein Konzept, von dem ich finde, dass man es 2021 hervorragend brauchen kann. „Staatsversagen“ ebenso. So lautet der Titel einer Folge von Inside PolitiX mit Thomas Reichart, ZDF.

Seit geraumer Zeit mache ich beruflich vorwiegend, und das sind viele Stunden in der Woche, nichts anderes, als Medienberichterstattung zu verstehen. Ich konsumiere schlechten Journalismus, bis sich mir alles dreht und hochkommt, und zum Runterkommen gucke ich zum Einschlafen noch schnell die Regierungspressekonferenz. Ich habe viel Leid gesehen, rege mich viel auf, möchte regelmäßig einzelne Medien verbieten und drohe manchmal, zynisch zu werden. Und dann kommt hin und wieder so ein richtig schönes Stück Journalismus, und dann bin ich für einen Moment wieder geheilt. Reichart hat das geschafft, für zwei Tage habe ich jetzt gut geschlafen in dem Gewissen, dass die Dinge auch mal vernünftig und unaufgeregt eingeordnet werden. Auch dann, wenn eine gesamte Regierung ihren Job nicht mehr machen möchte.

Besonders angenehm finde ich, dass nicht die Frage nach der Übernahme von Verantwortung gestellt wird. Die halte ich nämlich für vollkommen nebensächlich, und das kommt so.

Nichts auf der Welt kann an diesem Punkt die Situation der zurückgelassenen Ortskräfte und deutschen Staatsbürger in Afghanistan ändern. Naja, das stimmt eventuell nicht, ich kenne mich auch überhaupt nicht gut genug aus, um das ernsthaft behaupten zu können. Ich formuliere um: Der Satz „Ich übernehme die volle Verantwortung für das Geschehene“ kann an diesem Punkt überhaupt nichts ändern, ebensowenig wie ein Rücktritt von Seehofer, Maas oder meiner Schwester Kramp-Karrenbauer. Die Rufe nach der Übernahme von Verantwortung, die aus vielen Ecken jetzt laut werden, jetzt, an diesem Punkt, müssten für mein Verständnis einmal eingeordnet werden, ich brauche nämlich mehr Information zu: 1) Wie soll diese Übernahme der Verantwortung konkret aussehen und 2) Was soll diese konkrete Ausgestaltung in der jetzigen Situation genau bringen? Vielleicht verstehe ich dann besser, was gemeint ist und wofür es gut ist. Wir sollten übrigens nicht die Übernahme von Verantwortung verwechseln mit dem Gebot der anschließenden Aufklärung des Geschehenen. In meiner sehr auf Effizienz getrimmten Welt erscheint letztere allerdings auch fast überflüssig, ein Lernerfolg ist ja eher nicht zu erwarten.

Ich sehe auch gar nicht mehr als zwei sinnvolle Anwendungsfälle für die Übernahme von Verantwortung im politischen Geschäft. Beide fallen 2021 leider unter das Prinzip Hätte Hätte Fahrradkette. Das erste und vermutlich unwichtigere, zumindest, wenn alle sowieso in den nächsten Wochen nicht mehr planen, irgendetwas außer Wahlkampf zu machen, sieht so aus: Ich bin in verantwortlicher Position, und zwar ganz am oberen Ende der Kette. Bundesminister*in zum Beispiel. In meinem Verantwortungsbereich geschieht ein Fehler, der zu schwerwiegenden Folgen führt, ich verstehe, dass ich in meiner Endverantwortlichkeit diejenige bin, die einerseits dafür gerade stehen muss und die andererseits dafür Sorge tragen muss, dass gerettet werden kann, was gerettet werden muss, trete zurück und überlasse mein Amt einer Person, die retten kann. In einer optimalen Welt ist das eine fachkompetente Person, but well. Das kann natürlich vier Wochen vor der Bundestagswahl nicht mehr stattfinden, soviel ist klar. Und ob die Justizministerin jetzt Innen, Außen und Verteidigung noch „mitmachen“ kann, sei dahingestellt.

Der zweite Anwendungsfall für politisch verantwortliches Handeln setzt allerdings eine ganze Weile vorher ein. Nämlich dann, wenn die Vorgängerin einen schlechten Job macht, deswegen in irgendein EU Amt weggelobt wird und mich irgendwann die Kanzlerin morgens anruft und fragt, ob ich nicht vielleicht Verteidigung machen möchte. Oder Bildung. Oder Gesundheit. Oder Verkehr. Führen Sie die Liste bitte selbst im Kopf weiter, es sind noch einige schlecht besetzte Ämter da. An der Stelle trennt sich Spreu vom Weizen, unterscheidet sich Verantwortung von Politiksimulation. Dann würde ich mir nämlich wünschen, dass der oder die Angerufene sagt „Ich muss nachdenken“ und sich dann sehr klar vor Augen führt, für welche Entscheidungen, Prozesse und Problemlösungen er oder sie in der Funktion endverantwortlich dasteht, und zwar für ein ganzes Land, manchmal für einen noch viel größeren Empfängerkreis. Und dann ist die Folgefrage doch, ob ich mich selbst für fähig erachte, dieses Amt inhaltlich so auszufüllen, dass ich diese Verantwortung für Millionen von Menschenleben übernehmen kann. Ob ich von mir selber überzeugt bin, genug Sachverstand, Erfahrung und Klugheit auf dem zu verantwortenden Gebiet mitzubringen, dass ich nicht nur nach bestem Wissen und Gewissen nichts falsch mache, sondern sogar noch eine Vorstellung davon habe, was ich in dem Amt bewirken könnte, was Deutschland, die EU und den Rest der Welt nach vorne bringen kann. Und ob ich die Kraft habe, dafür zu kämpfen. Wenn ich all das mit Ja beantworten kann, bin ich vielleicht die richtige Person für den Job. Ich bin mir nicht sicher, ob das der Gedankengang war, der sich im Kopf von AKK abspielte, als sie das Amt der Verteidigungsministerin angetragen bekam.

Ich meine, es Maas und AKK ansehen zu können, dass sie persönlich Verantwortung in der Form übernehmen, dass sie ihr eigenes Versagen nachts im Bett anerkennen, dass sie verstanden haben, dass sie in ihrer Untätigkeit, die wohl Folge von Fehleinschätzungen war, von mangelndem Gestaltungssinn, von fehlender Kompetenz, auf die zu hören, die die Lage besser verstehen, Menschenleben nicht nur riskiert haben. Dass der Job nicht ihrer war. Wie AKK den Brigadegeneral Arlt nach Ankunft der letzten Soldaten hilflos in den Arm genommen hat, wirft die Frage auf, warum sie nicht Familie mitgemacht hat.

Verantwortung ist etwas, was im Inneren passiert (nicht dem Ministerium, natürlich). Was als eigener Kompass für die Entscheidungen fungiert, die ich treffe, was mich davor beschützen sollte, mich zu übernehmen, besonders dann, wenn ich noch Verantwortung für andere Menschen übernehme. Und was ich im Versagensfall nur noch mit mir selber ausmachen kann. Zumindest vier Wochen vor einer Bundestagswahl.

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