Don’t know much about

Dies ist wieder so ein Blogeintrag, der mit „2021“ beginnt und den ich so vergleichsweise entspannt beginne zu schreiben, von dem allerdings noch nicht klar ist, wie sehr er mir in den nächsten Minuten entgleisen wird. Ich tippe zwar schnell, aber Dinge entgleisen ja auch sehr schnell. Mir ist intrapandemisch so viel entgleist, ich komm mit dem Zählen gar nicht mehr mit. Diese Sorte Beiträge beginnt häufig damit, dass ich mir überlege, welches das dominierende Gefühl im laufenden Kalenderjahr gewesen sein könnte, und da gab es bislang ja verschiedene Kandidaten. Ganz vorne weg Überraschung, das aber ja nicht bei mir, eher so auf Seiten der Politik. Oh, neues gefährliches Virus, erst mal Lockdown (kompetent gelöst, Welle 1), dann 2. Welle -> Überraschung, dann 3. Welle -> Überraschung, dann 4. Welle (hier können sie einen kurzen Test machen, ob Sie gut in Mustererkennung sind.)

Also Überraschung war es jetzt auf meiner Seite nicht, ich hatte Trauer, ich erinnere mich wirklich an sehr viel Traurigsein, an Wut, an Fremdschämen, und ich bin mir sicher, das ein oder andere Gefühl könnte ich in 2021 schon noch gehabt haben. Doch in den letzten Tagen kam ein neues dazu, das ich sonst aufgrund klugen Erwartungsmanagements nicht oft verspüre: Erschütterung. Ich bin erschüttert angesichts der allgemein empfundenen Hilflosigkeit vieler Menschen, der Dummheit anderer, der Untätigkeit der Politik, der Machtlosigkeit derer, die es besser wissen, und angesichts der *wirklich beschissenen* Lage an den Schulen. Erschüttert. Und ich bin erschüttert, dass Deutschland, das Land der Dichter und Denker, zu einem Ort verkommen ist, an dem wirklich schlaue Gedanken fast nur noch auf Twitter stattfinden. Und in manchen Blogs.

So zum Beispiel neulich bei Herrn Rau, der – und ich möchte ihm bereits zu dem fantastischen Begriff gratulieren – uns erklärt, was es mit der stochastischen Verantwortlichkeit auf sich hat. Hervorragend, ich schließe mich an, wir müssen das gar nicht weiter besprechen. Höchstens um ein Beispiel ergänzen: Ich war am Samstag wie erwähnt mit zwei Ü80ern im Theater, und da konnte ich wählen, ob ich die Wahrscheinlichkeit, dass meine Mutter auf mich sauer ist, bei 100% ansetzen möchte („Nein, keine Diskussion, du trägst die FFP3 Maske und wir trinken anschließend zuhause was“), oder die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich anschließend fragen muss, ob ich meine Verantwortung für den Tod meiner Mutter und ihres Bekannten bei, naja, sagen wir mal 0,1% („Kein Problem, nehmt die Masken ruhig ab, haben alle anderen ja auch, klaro“) ansetzen möchte, und dann ist es ja wieder einfach. Natürlich ist die zweite Wahrscheinlichkeit gering, aber wie ich ja seit der Geburt des Kindes immer gerne sage: Wenn Tod eine mögliche Folge ist, wird halt nicht diskutiert. Ich hätte mit dem sehr unwahrscheinlichen Vorfall, dass mein Einjähriger aus dem 2. Stock Altbau fällt, sehr schlecht leben können, und dann schraubt man halt mal für ein paar Jahre die Fenstergriffe ab. So einfach ist das. Und da Herr Rau ja die wichtigen inhaltlichen Punkte schon gemacht hat, bleibt für mich nur noch ein bisschen Erschütterung über den Zustand der Außendarstellung der Philosophie in Deutschland, das muss auch noch mal gesagt werden, sogar von mir. Und das auch durchaus legitimiert. Wie Sie wissen, bin ich ja keine gelernte Philosophin, sondern Linguistin, und eines meiner zentralen Themen war einst die Logik, heute arbeite ich hobbymäßig zur Ethik. Beides Bereiche, die große Schnittmengen mit der Philosophie aufweisen. Die formale (mathematische) Logik unterscheidet sich in der philosophischen Logik in nichts Wesentlichem, außer vielleicht dem Operationalisierungsgrad. Ich kann aber nicht ausschließen, dass ich denjenigen Philosophen, die nicht bei Markus Lanz sitzen, damit Unrecht tue und die philosophische Logik knallhart durchoperationalisiert ist. Vermutlich ist das aber sogar eine Scheinfrage, die in den praktischen Disziplinen und unter echten Philosophen gar keine Rolle spielt.

Zu Anschauungszwecken schreibe ich jetzt einen winzigkleinen Absatz zur formalen Logik, halten Sie durch, Sie brauchen das gleich, allerdings nicht inhaltlich, wenn Sie also nicht folgen wollen, ist das in Ordnung:

Als (Disziplin) Logik bezeichnen wir die Theorie der gültigen Schlussfolgerung. Als (System) Logik bezeichnen wir ein Regelmodell, das aus drei Teilen besteht: 1) einer formallogischen Sprache, 2) einem Set von Situationen und 3) einem operationalisierten Beweissystem. Erfunden hat dieses praktische Handwerkszeug Gottlob Frege Ende des 19. Jahrhunderts, dann hat es etwas geruckelt, weil Russel Probleme entdeckt hatte, und dann kam zum Glück Gödel und alles wurde gut. Wirklich zum Glück, denn ohne die Logik ständen Mathematik, Philosophie und Linguistik sehr blöd da.

Okay, das reicht, ich habe sehr grob erzählt, was Logik ist und wer sich das ausgedacht hat, und jetzt bin ich? Nein. Nicht Philosophin. Ich habe etwas erklärt, was andere Menschen sich ausgedacht haben. Das gehört zum Gebiet der Philosophie. Ich habe das verstanden, kann es erklären und in einzelnen Fällen sogar anwenden. Das macht mich nicht zur Philosophin.

Und das ist eigentlich schade. Ist es doch so, dass das Berufsbild der Philosophin ein höchst attraktives ist. Man sitzt in einem Sessel, denkt viel nach, und wenn man dann zu einem Ergebnis kommt, wird das von der Welt einfach so hingenommen, man ist ja Philosophin und damit von vornherein anerkannt als die Person, die am allerbesten über etwas nachgedacht hat.

Und jetzt möchte ich mit Ihnen über Precht und Flaßpöhler sprechen, und ich bin jetzt der Bad Cop. Ich bin darüber *erschüttert*, dass die beiden in deutschen Talkshows als geladene Philosophen sitzen. Noch viel erschütterter müssten doch eigentlich Philosophieprofessor*innen sein, aber die sind vermutlich damit zu beschäftigt, sich mit einem Glas Rotwein zu grämen, als dass sie jetzt noch irgendwas in den schnellen sozialen Medien dazu veröffentlichen könnten. Oder vielleicht tun sie das, und ich habe es nur nicht gelesen, das kann sehr gut sein. Ich möchte gar nicht anzweifeln, dass F und P vielleicht sehr kluge, sehr fleißige und sehr strebsame Menschen sind, die optisch zudem gut hergeben, dass sie vor Fernsehkameras auftreten. Auch können beide lange, komplexe Sätze mit vielen Fremdwörtern grammatisch zuende führen. Das neide ich ihnen unverwunden, aber wenn der Leidensdruck zu groß wird, mache ich ein Sprechertraining, dann kann ich das vielleicht auch endlich.

Was ich Precht, der von Studiumsbeginn bis Promotion nur atemberaubene 9 Jahre brauchte, was für so ein literaturintensives Gebiet, sagen wir mal: beachtlich ist, sehr wohl zugute halte, ist, dass er Philosophie populärwissenschaftlich sexy gemacht hat, das ist natürlich super. Er kann auch sicherlich Gedanken anderer gut transportieren. Für die Berufsbezeichnung „Philosoph“ fehlt mir der eigene große Wurf, die eigene geistige Leistung. In einigen Ländern unterscheidet das Wissenschaftssystem zwischen Readern und Lecturern. Er ist ein Lecturer. Er kann sicherlich ganz fantastisch zusammenschreiben, was Leute seit der Antike so überlegt haben. Dafür danke. Wenn er selber überlegt, bin ich häufig von der Qualität des Ergebnisses nicht überwältigt. Wenn er sagt, Gendern sei doch überflüssig, den Frauen ginge es doch fast so gut wie den Männern, und da sei man ja schon sehr weit gekommen. Wenn er sagt, er würde Indianer kennen, die es okay finden, Indianer genannt zu werden, und er würde es ja nicht böse meinen (meine freie Interpretation), wenn er sagt, er würde niemals ein Kind impfen lassen, da sich der gesamte Körper ja noch im Aufbau befände, und außerdem habe sein Freund eine schlimme Impfnebenwirkung gehabt. Das ist unfassbar niederkomplex, schon allein in der Fragestellung. Ich erwarte nicht von Precht, dass er sich die Mühe macht, ein systemisches Modell in Gänze zu durchdringen, bevor er sich eine Meinung bildet, das ist mir nämlich vollkommen egal. Ich erwarte aber von Deutschland, dass eingeordnet wird, dass da nicht Deutschlands größter Philosoph gerade laut nachdenkt, sondern Richard, und der kennt einen, der eine Impfreaktion hatte.

Schwenk zu Flaßpöhler. Und ich kürze ab. Wir haben zu gleicher Zeit am gleichen Ort in gleicher Aura studiert und Examen gemacht, ich bin dann irgendwas geworden, und Frau Flaßpöhler ist Journalistin geworden. Ein sehr ehrenwerter Beruf, für den es auch nie schaden kann, wenn man gut im Denken ist. Keine Frage. Dann war sie irgendwann stellvertretende, seit 2018 sogar echte Chefredakteurin des Philosophie Magazins (jede Disziplin hat ja so ihre eigene BILD Zeitung, die Deutsche Apotheker Zeitung nennen wir liebevoll auch die BILD der Pharmazeuten). Alles sehr beeindruckend. Und das meine ich absolut ernst. Bei Beiden. Aber. Frau Flaßpöhler ist Journalistin, und als solche möchte ich sie eingeordnet hören, wenn sie in Talkshows mit langen Sätzen erklärt, dass Impfen ja auch nicht 100% schützt und Corona ja auch nicht 100% tötet und sie ein Kind hat, das nicht blablabla. Anekdotische Evidenz von morgens bis abends, und zwar immer eingebettet in einen Habitus, der sagt: „Wir sind Philosophen, wir haben das zuende gedacht und haben deshalb recht.“ Das möchte ich nicht mehr sehen. Das ist erschütternd. Auch hier wieder. Überhaupt kein systemisches Denken, keine Bemühung, zu verstehen, wie Dinge mit einander zusammenhängen, keinerlei Faktenwissen, keine Bereitschaft, über eine stringente Argumentation nachzudenken. Keine Logik. Für Philosophen schon sehr traurig.

Bevor wir uns darauf versteifen, dass diese beiden Gesichter Deutschlands philosophische Visitenkarten sind, möchte ich noch mal darauf hinweisen, dass es an Universitäten auch in diesem Land Menschen gibt, die sich seit Jahrzehnten wissenschaftlich begutachtet mit den Themen auseinandersetzen, die vor allem, und das ist mir ein wichtiges Anliegen, über das Handwerkszeug verfügen, komplex zu durchleuchten, stringent zu argumentieren und zu vernünftigen Ergebnissen zu kommen. Und damit möchte ich mich gar nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, ich argumentiere seit über einem Jahr nicht mehr stringent, weil ich abwechselnd wütend und erschüttert bin. Ich kann nur noch schreien. Aber ich werde auch nirgendwo eingeladen und nach meiner Meinung gefragt, und die steht auch nie als Gold Standard irgendwo, weil ich beschlossen habe, dass ich jetzt Philosophin bin. Und das, obwohl ich Frege gelesen habe. Mehrfach.

Ein ganz großartig heller Stern, den im Vergleich leider viel zu selten leuchtet, ist übrigens Alena Buyx. Die Medizinethikerin, die immer ein rotes Kleid anhat. Wenn Sie angewandte Philosophie mit dem richtigen Handwerkszeug gut exekutiert sehen wollen, gucken sie Lanz lieber, wenn Frau Buyx da sitzt. Da kann man noch was lernen.

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