Death wish

Ich bin wieder zuhause, und es ist alles geregelt. Ich habe das neue Auto abgeholt, das Übergangsauto an einem ganz anderen Ort wieder weggebracht, ich habe ein wirklich sehr schönes Konzert in der Elbphilharmonie gesehen, Bach und Buxtehude, Bela B. fehlte leider, und ich habe eine Nacht in dem Hotel verbracht, aus dem man die kürzeste Anreise in die Elbphilharmonie hat. Das Konzert begann um 20 Uhr, um 19.57 Uhr verließ ich das Zimmer, wohlwissend, dass das eine sehr knappe Kiste ist, insbesondere auf leicht erhöhten Absätzen, aber ich hab’s geschafft, habe über den Gang rennend teils fragende, teils tadelnde Blicke kassiert, habe dann mit dem Hinweis, ich hätte jetzt aber wirklich ganz viel Glück gehabt, exakt gleichzeitig mit den Musiker*innen den Saal betreten, sie auf der Bühne, ich geschätzt 400 Meter drüber in Tribüne T, das ist quasi kurz vor gar nicht mehr im Gebäude, und dann habe ich da mit dem mitreisenden Kollegen gesessen und es sehr schön gefunden. Interessanterweise – wir hatten leider zeitlich keine Luft mehr eingeplant für die Organisation eines Textheftes und haben daher irgendwas zwischen 1 und 5 Prozent des Textes verstehen können – fanden wir beide das gleiche Lied am schönsten: die Arie „Ich wünschte mir den Tod“ aus der Kirchenkantate „Selig ist der Mann“. Nun ist es so, dass ich Bach insgesamt schätze, es ist eine Art Hassliebe, immer dieses Plingeling mit dem Cembalo ist mir manchmal anstrengend in den Ohren, aber meist überwiegt das, was ich mag. Komplexität ist ja mein Ding. Als Anna Prohaska begann, dachte ich direkt: Oh, das ist kompliziert, da passieren ständig unerwartete Dinge. Anders als bei Pandemie finde ich Überraschungen ja gut, und wenn ich in einer Bachkantate überrascht bin, ist das meist auch weniger problematisch, als wenn Gesundheitsminister Laumann in Pandemiemonat 490 von dem Übertragungsweg von COVID-19 (Aerosole) überrascht ist. Eine Stelle ist so, dass irgendwann mittendrin eine Note gesungen wird, dass man laut „Och“ sagen muss, wobei man das wegen der exzellenten Akustik (Fachleute zweifeln, jaja, ich habe die Omma 1000 Meter von mir weg niesen hören, als säße sie in meinem Ohr) in der Elbphilharmonie ja lieber nur im Kopf machen sollte, die anderen Gäste kennen das vermutlich schon, dann ist man unangenehm aufgefallen als die Person, die BWV57 nicht schon sehr gut kannte, etc… Langer Rede, kurzer Sinn. Das Lied hat sehr viel für mich getan, so innerlich, permanente Überraschung, das Erfolgserlebnis, wenn man bei der dritten Wiederholung dann endlich schon vorher wusste, dass gleich die sehr unerwartete Note kommt und es dann auch noch schafft, sich nicht mit „SIEHSTE“ auf den Oberschenkel zu schlagen, und auch ein bisschen Trauer darüber, dass das einzige, was man ohne Textblatt versteht, die Worte „Ich wünschte mir den Tod“ sind, die dann aber gleich minutenlang. Das bildet mich inhaltlich schlecht ab, ich wünschte mir noch nie den Tod, ich glaube ja an nichts, vielleicht ein kleines bisschen an Gerechtigkeit, dass man, wenn man jahrzehntelang ein wirklich sehr hervorragendes Leben gelebt hat, auch mal durch eine härtere Zeit muss, und dass dann aber irgendwann auch wieder gute Zeiten kommen, ich persönlich sehe sie sehr deutlich am Horizont aufblitzen. Ich verliere mich. Hätte ich mehr verstanden auf Tribüne T, hätte ich gewusst, dass die konditionierende Umgebung für den Todeswunsch „wenn du Jesus mich nicht liebtest“ ist, und das hätte mich dann ja noch viel weniger abgebildet, denn ja, jede*r möchte geliebt werden, auch ich. Aber ich habe da andere Leute im Auge, und die werden auch noch gefunden, da bin ich wieder ganz optimistisch, jedenfalls bleibt unterm Strich: Ein phantastisches Lied, mit dessen Text ich leider gar nix anfangen kann, aber das war gestern abend ja egal, ich hatte kein Textheft.

Und dies sollte eigentlich ein Eintrag über das neue Auto werden, da mich Kultur aber immer schon mehr interessiert hat als Autos, ist mir jetzt langweilig.

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