In den Augen spüre ich den nicht. Und das ist ja das Allerwichtigste, da der Rest ja neuerdings von einer Maske bedeckt wird. Ich hänge mich jetzt weit aus dem Fenster, das ist mir klar, aber es gibt Gebiete, auf denen mein Leben durch Corona wirklich Klassen besser geworden ist. Fehlende Interaktion mit Fremden Menschen zum Beispiel. Ich habe das nicht geschätzt, weder den Handschlag, bei dem man immer zu fest oder zu lasch ist (interessanterweise finde ich einen zu laschen Handschlag ja viel belastender als einen zu festen, zu fest führt hin und wieder zu der Frage, warum man den doofen Ring eigentlich rechts trägt, aus handhygienischen Gründen (und das ist ein anderes Thema, sprechen Sie mich gerne noch mal darauf an) ja sowieso alles totaler Irrsinn, und wenn dann noch jemand sehr resolut auftritt, dann ist das halt schon mal schmerzhaft). Drücken ist sowieso totales No Go, entweder ich drücke aus vollem Herzen, dann aber auch echt, oder ich drücke nicht. Am schwierigsten ist Bussi Bussi, da ich da interkulturelle Probleme habe. Niederländer küssen dreimal, rechts links rechts. Deutsche küssen gerne zweimal, und dann ist man schnell der Idiot, der sich mit einem dritten Kuss aufgedrängt hat. Unfassbar schlimm: Bussi Bussi, wo nicht allen klar ist, welche Seite zuerst drankommt, dann hat man schnell mittig geküsst, auch im Kundengeschäft.
Für mich kann das alles weg, und da ist Corona zur Abwechslung mal hilfreich. Auch den Weg zum Supermarkt habe ich neulich bei 35 Grad mit mehr Fassung getragen als vor „der aktuellen Situation“. Was noch schlimmer ist als der Tanz um die Bussis ist ja der Geruch von Menschen. Ich möchte Menschen nicht riechen, eventuell mit einigen Ausnahmen. Wenn ich im Supermarkt in der Schlange stehe und jemanden rieche, gehe ich weg. Ich habe Frau N. mal in einem Restaurant sitzenlassen, in dem man die Stühle kaufen konnte (Warum waren wir da noch mal?), weil in der U-Bahn jemand so ungeduscht war, dass ich aussteigen musste. Heute ist das alles ja sehr gut. Ich trage eine Maske, die ich bei Bedarf parfümieren kann. Weiß ich also an einem Samstag mit 35 Grad draußen, dass ich gleich in einen Supermarkt mit schwitzenden Menschen muss, dann sprühe ich ein wenig 4711 mit Pfirsich und Pfeffer auf die Maske, und dann stehe ich anschließend hinter stark schwitzenden ungeduschten Männern in Achselhemden in der Schlange (jaja, oder Frauen) und genieße jeden Atemzug.
So wohnt jeder Krise auch ein Zauber inne, und wenn es nur ist, dass ich niemanden mehr anfassen muss, den ich nicht anfassen möchte.
Frau Klugscheißer hat neulich mal einen Blogeintrag zum Thema Einsamkeit in der aktuellen Situation geschrieben, über den ich viel nachgedacht habe. Also grundsätzlich über die aktuelle Situation und was sie mit Menschen macht, und ob sie darüber sprechen wollen oder nicht, und wie Leute darauf reagieren, wenn man es tut. Mein persönlicher Lernerfolg: Ich spreche nicht mehr über mein Elend, denn es geht ja immer schlimmer, was es für mich nicht unbedingt besser macht. Wir alle, wirklich jeder von uns, hat irgendwas, was doof ist in der aktuellen Situation (außer natürlich alle Lehrer mit Ausnahme derer, die hier lesen, die sind super, kleiner Spaß). Für alle Menschen in Deutschland, in großen Teilen der Erde, hat sich das Leben drastisch geändert, mindestens im Lockdown, und für die wenigsten zum Guten. Nehmen wir mich zum Beispiel. Mein Kind ist 11 und sehr gut in der Lage, sich selber zu beschäftigen. Sehr gut. Er ist wahnsinnig gut in der Schule, man muss sich nicht sorgen. Sehr gut. Ich wohne für städtische Verhältnisse wirklich sehr toll, zumindest finde ich das, und das ist ja das Einzige, das in dem Kontext zählt. Sehr gut. Absurd viel Platz, ein ernstzunehmendes Draußen. Sehr gut. Damit habe ich aber auch das Recht, über die Situation, zu dritt auf 200 m2 für fünf Monate eingesperrt zu sein, zu klagen, auch schon verspielt. Wenn man dann theoretisch sagt, dass man sich ja vorher schon sehr an seinem Partner gerieben hat, dann kann man natürlich sehr schnell hören „Immerhin hast du eine Familie“. Ja, richtig. Vielleicht ist man aber ein Mensch, der eigentlich dafür gebaut ist, allein zu sein, zumindest viele Stunden am Tag, und dann ist man in der Situation ja auch nicht gut aufgehoben. Wie wollen wir denn messen, wessen Schmerz schlimmer ist? Ich möchte sagen, dass ich mir das extrem gut vorstellen kann, in den letzten Monaten allein gelebt zu haben. Ich weiß aber auch, dass das auch scheiße gewesen wäre. Ist halt Pandemie. Ist scheiße. Ich schwenke zu meiner Mutter. Sie ist neulich 80 geworden, seit einem Jahr Witwe, im März zwei Tage vor Lockdown nach Düsseldorf, 50 Meter fußläufig von uns eingezogen. Als keiner mehr rausdurfte und wir uns organisieren mussten, beschlossen wir, dass wir uns einfach komplett abschotten und keinerlei Kontakte mehr haben, um meiner Mutter zu ermöglichen, in den ersten Wochen ihres Lebens, in denen sie allein wohnt (ja, 79 Jahre betreutes Wohnen) nicht direkt allein in ihrer Wohnung zu sitzen, sondern mit uns im Garten. Wir haben alles gestoppt und mit niemandem mehr Kontakt gehabt, um ihr das zu ermöglichen, ist sie ja Risikogruppe. Trotzdem war sie traurig. Denn ja. Viele, viele, viele 79Jährige in Deutschland wohnen nicht neben der Tochter mit dem Enkel und dem halben Streichelzoo und können einfach rundum die Uhr im Garten sitzen und ein bisschen sonnen. Viele können das nicht. Dennoch konnte sie viele Dinge nicht, die sie machen wollte, und mit 79 weiß man auch nicht, wie oft man noch mit dem Bekannten Kaffee trinken darf. Meine Schwester hat mich irgendwann im Rahmen einer freundlichen Intervention mit einem eigenen Zitat überzeugt. Nur, weil in Afrika Kinder sterben, ist mein Leben nicht vollumfänglich super. Das ist nicht böse gemeint, und ich brauche jetzt auch keine Belehrung, danke. Was ich sagen möchte: Jeder hat sich selber als Referenzmaß, und es geht immer schlimmer, das macht das eigene Leiden aber nicht wett. Letzte Woche hab ich mir eine eingefangen, weil ich über meine berufliche und wirtschaftliche Situation klagte, die von extrem gut zu extrem umkalkulierbar zerflossen ist in der aktuellen Situation. Denn ja, es gibt immer eine Berufsgruppe, der es noch schlechter geht als einem selbst. Bestimmt. Ich weiß nicht, wo da unten ist, aber ich sag’s mal so, für den Moment ist meine Situation wirklich eher mittel. Sicherlich geht es Soloselbständigen auch schlecht. Dadurch fühle ich mich nicht besser. Meine Mutter hat uns, aber das macht nicht alles wett. Und ich habe Platz, Familie, Tiere und Garten, aber auch ich bin nicht glücklich. Künstler sind pleite, na gut. Andere auch. Es wird eine Zeit nach Corona geben, und jetzt lehne ich mich noch weiter aus dem Fenster: In meinem Umfeld sind die Leute, deren Existenz von der Entwicklung der aktuellen Situation abhängen, einfach mal ein paar Wochen mit dem Arsch zuhause geblieben. Ich kenne viele Richter. Kroatien und Spanien. War ja auch alles sehr anstrengend mit dem Lockdown. Eventuell ist eben niemand glücklich. Weil das eben 2020 ist, das Jahr, in dem alle unglücklich sind. Und weil man in der Sekunde, in der man sagt, dass man leidet, sofort gesagt bekommt „aber du hast doch Familie und einen Garten“, sage ich zu dem Thema halt nix mehr. Und ja, das ist eigentlich schade, weil man so immer nur vor die Fassade guckt. Für mich ist das super. On paper, I’m gold!
Mehr kann ich gar nicht sagen. Ich weiß nicht, was man tun muss, um im Leben glücklich zu werden, ich habe mich eher auf Grammatikthemen spezialisiert. Ich habe aber Dinge entdeckt, die Spaß machen und die mir das Leben versüßen. Morgens mit Frau N. und Cucina Casalinga per Video zusammenschalten und gegenseitig beim Tippen zugucken. Das hat übrigens mein Kind in dem gesamten Lockdown auch gemacht. Und das ist verrückt, weil es wirklich gut funktioniert. Wir sitzen uns gegenüber und ignorieren uns, und das macht mehr Spaß als alleine irgendwo zu sitzen. Ich war ja nie großraumgeeignet, aber das könnte für mich die perfekte Arbeitsatmosphäre sein. Und dann muss man sich natürlich auch in schweren Zeiten – ich möchte sagen gerade in schweren Zeiten – politisch engagieren. Deshalb war ich heute kurz bei Düsseldorfs namhaftesten Künstler und Radfahrer, um mit ihm unsere Gemeinschaftskandidatur für Düsseldorf zu besprechen. Bürgermeister ist ja ein sichererer Job als Unternehmer, und man muss sein Schicksal einfach selbst in die Hand nehmen. Im Gegensatz zu exakt allen anderen Wahlkampffotos, die Sie so antreffen auf der Welt, haben wir nicht nur Masken auf (können Sie nicht sehen, ist aber so wegen drinnen und Aerosole), sondern wir haben mithilfe von Profiwerkzeug zu jedem Zeitpunkt kontrolliert, dass die 1,50m Abstand eingehalten waren. Allein damit muss man schon gewinnen.
Abschließend sei noch gesagt: Pink = Künstler, Ringelsocke = ich. Sollten Sie sich fragen.
Bittersweet Symphony