22.10.2023

Lassen Sie uns eine Decke des Schweigens über die letzten Tage breiten, es war alles sehr anstrengend, es war sehr regnerisch, das „Waldhotel“, in das man sich gebucht hatte, war eine Bumsbude mit Bäumen drumrum mitten im Autobahnkreuz, und wenn man sich vorstellt, dass 16 Stunden Lehre zu komplexen Themen an zwei Tagen vor den gleichen armen 50 Menschen anstrengend ist, der muss sich eine ganz neue Dimension für „anstrengend“ ausdenken, denn das Wort fasst nicht gut zusammen, *wie* angestrengt ich jetzt bin. Als ich gestern Abend sehr spät die Haustür aufschloss, hatte ich so viel Liebe für Düsseldorf, mein Zuhause und meine echte Arbeit, dass ich denke, vielleicht sollte ich einfach immer mal was Blödes zwischendurch machen, nur, weil ich zu feige war, nein zu sagen, und dann weiß ich danach wieder, wie super mein eigentliches Leben ist. Auch schön.

Heute hätte ich also eigentlich am allerliebsten einfach den ganzen Tag im Bett gelegen, das wäre auch gut gegangen, ich beschloss aber, mich vormittags mit dem Hund meiner Sandkastenfreundin zu treffen und in strahlendem Sonnenschein am Rhein rumzulaufen, das war dann sehr schön, und dann kam ich noch pünktlich zum Anpfiff des Heimspiels, und nach der Tour des Leidens konnte Onas Mannschaft heute endlich mal wieder als Sieger aus der Halle gehen. Wiederum schön.

In der Halbzeitpause habe ich heute dann erstmals einen Sprechtext getestet, von dem ich mir in den letzten Wochen nie sicher war, ob ich ihn nicht lieber für mich behalten möchte, aber ich dachte, der Rezipient kennt mich und den Teenager seit so vielen Jahren und ist uns herzlich zugetan, das ist eine Art Safe Space, da kann ich ja mal testen, but well, die Reaktion war verhalten, das Thema wurde gewechselt, ich habe dafür Verständnis, aber ich werde mich vielleicht gewöhnen müssen. Daher übe ich den Text jetzt hier auch, und dann haben wir das besprochen und sprechen wieder über Handball. Seit drei Wochen studiert der Teenager Bio an der Uni Düsseldorf. Das war eine folgerichtige Entscheidung, die von der Schule vorgeschlagen und ermöglicht wurde, um ihm zu ermöglichen, dass er sich ein bisschen mehr mit Dingen, die ihn interessieren, beschäftigen kann, und dadurch ein bisschen weniger Zeit hat, aus Langeweile Dummheiten zu machen. Ich hab ja durchaus mal erwähnt, dass wir schulisch (was die Leistungen betrifft) eher keine Baustelle haben, faktisch hat er in den letzten 9 Jahren durchweg einfach alle Fächer (außer abwechselnd Reli und Kunst) immer glatt 1, er hat außer einer Mathearbeit, von der er nach Krankheit nix wusste, noch nie eine Arbeit nicht 1 geschrieben. Ich möchte sagen, dass das auf der einen Seite ein großes Glück ist, Vieles fliegt ihm mühelos zu, andererseits hat jedes Extrem auf der Welt auch immer eine dunkle Seite, und ich formuliere es vorsichtig: Es ist ab einem gewissen Punkt nicht mehr möglich, ein Kind, das sich ständig langweilt, zu motivieren, irgendwo hinzugehen, wo es keine Herausforderungen gibt, da hilft Pubertät auch nicht weiter, und da der Schule die Ideen ausgingen (und man vielleicht auch nicht vergessen darf, dass es für einen 14Jährigen auch eher keine Ehre ist, wenn er immer einfach mehr machen soll, weil ihm sonst langweilig ist, Strafarbeit und Extraaufgaben sind nicht trennscharf im Kopf eines 14Jährigen), und so schlug man vor, er könne sich doch auch mit Sachen beschäftigen, die ihn wirklich interessieren, und das macht er jetzt. Drei Tage die Woche geht er also jetzt morgens an die Uni statt in die Schule, die versäumten Stunden arbeitet er zuhause nach. Nach einem ersten Schreck, dass es ja auch Dinge gibt, die nicht total einfach sind, findet er es super, geht jetzt sogar mit hoher Motivation in die Schule, weil er da ja jetzt besser aufpassen muss, und insgesamt sieht es erstmal so aus, als wäre das Modell wirklich sehr schön für ihn. Ob er jemals in Bio eine Klausur bestehen wird, steht in den Sternen, ihm fehlen nämlich 4 Jahre Bio-, Physik- und Chemievorwissen, das ist aber ja auch überhaupt nicht das Ziel. Das erklärte Ziel der Schule ist es, dass er Sachen in seinem selbstgewählten Tempo machen kann, und das finden alle Beiteiligten gut. Wir haben überlegt, dass er – sollte er zum Abi schon einige Scheine zusammenhaben – dann halt zwei Jahre FÖJ und irgendwas anderes macht, denn nach wie vor sehe ich keinen Mehrwert darin, dass Menschen mit 21 mit dem Studium fertig sind, genau so, wie ich nie einen Mehrwert von Abi mit 15 gesehen hätte. Momentan ist der Mehrwert viel eher, dass er in der Schule weniger Zeit hat, Papierkügelchen zu werfen. Und das ist gut erfüllt, wie es aussieht.

9 Gedanken zu „22.10.2023“

  1. Wow! Tolle Lösung für den Teenager! Ich kannte bisher nur, dass so begabte Jugendliche eine oder mehrere Klassen überspringen, was dann unter sozialen Aspekten oft… weniger angenehm ist. Dieses Modell klingt toll auf allen Ebenen.

    • Ich führe diese Gespräche ja seit mehr als 9 Jahren. Da er zusätzlich noch so groß ist, musste ich mich durchsetzen, dass er nicht früher eingeschult wurde, dann sollte er überspringen, fand ich auch schlecht, dann sollte er wieder überspringen, jetzt wäre vielleicht noch ein Schulwechsel eine Idee gewesen. Aber der Punkt ist ja der: Er ist 14. Und er kann super Latein, Mathe und so, aber er ist ein total 14jähriger 14Jähriger, und ich habe mit 5, 7, 11 und 14 jeweils zurecht beschlossen, dass Schule ja auch ein Ort ist, wo man zu einem sozialen Wesen wird, und dann haben wir uns immer dagegen entschieden. Wollte er auch nie. Überspringen mag für manche Kinder gut sein, für meins fand ich es schlecht. Und jetzt ist es super, er muss nicht mehr 90 Minuten da sitzen und zuhören, wenn er in Minute 5 es verstanden hat, dafür sitzt er halt 90 Minuten irgendwo, wo alles aufregend und auch für ihn schwer ist, das findet er im Moment toll, und die 90 Minuten arbeitet er halt zuhause nach.

  2. Ich finde das Modell auch super. Meine Tochter hat auch bis Ende der 9. Klasse den Lerninhalt scheinbar durch…die Achselhöhle (?) aufgenommen. Plötzlich Halbjahreszeugnis 10. Klasse stand sie in Chemie, Bio und Physik auf „4“. Es war kein Wort nötig. Sie hat sofort kapiert, dass sie nun doch etwas tun muss….hat auch super geklappt 😊 aber das Modell mit der Uni ist grossartig!!! I’ll stay tuned!

    • Ja, das ist auch eine wichtige Erfahrung. Ich habe erst an der Uni damals zum ersten Mal echt etwas lernen müssen, und ich denke, dass das schwieriger war, als hätte ich mich früher mal mit dem Thema beschäftigt (ich bin in der 10 auch abgesackt, hab es aber so laufen lassen 😉 )

  3. Das klingt nach einem klugen Plan. Der Teenager hat großes Glück mit seiner Mutter und der Schule, wie es aussieht!
    Wobei mich als Person, die nie an einer Uni studiert hat, noch interessieren würde: Wie geht das praktisch? Mit Empfehlung der Schule statt Abizeugnis?

    • Praktisch ist es so: Die Schulleitung schlägt den Schüler oder die Schülerin der Uni vor, die verantwortlichen Fachlehrer:innen müssen ein fachliches Gutachten schreiben, und Ona musste noch ein Motivationsschreiben mitliefern, einen Aufsatz. Das läuft also komplett ohne Eltern, nur zwischen Schule und Uni. In unserem Fall war das tatsächlich erst gar nicht in unserem Sinne, wir hatten uns erst vehement dagegen ausgesprochen. Ich kann mir vorstellen, dass es auch Eltern gibt, die das gerne in die Wege leiten würden, faktisch spielen die jedoch gar keine Rolle, ich glaube, ich habe nicht einmal irgendetwas unterschrieben.
      Die Uni schreibt die Jugendlichen dann ein, allerdings als Schülerstudent:innen, sie kriegen alles, was nicht finanziell wirksam ist (also kein Semesterticket, etc.), also UB-Ausweis und so. Dann sind bestimmte Veranstaltungen für sie geöffnet, im Prinzip die Dinge, wo die Plätze nicht rar sind (wenn es 300 Praktikumsplätze für 400 Studis gibt, ist der 14Jährige nicht der erste, der einen kriegt, weil sein Studium ja noch ein bisschen länger dauert, das ist total okay). Dann geht das Semester los, es gibt noch eine gemeinsame Infoveranstaltung für die in dem Semester 20 Schüler:innen an der Uni Düsseldorf, und jetzt ist er ein normaler Student, der einfach so mitläuft und alles macht, was die anderen machen. Beschränkungen gibt es nur für Medizin: Das Ganze ist eigentlich gedacht ab der 10. Klasse, wie man an dem 12Jährigen, der Analysis I hört, sieht, ist das aber flexibel. Nur Medizin darf man nur machen, wenn man schon in der Oberstufe ist und einen Notenschnitt hat, der ermöglicht, dass man hinterher auch weiterstudieren kann, also nicht schlechter als 1,0. Was nett ist: Es gibt eine Dame im Studierendenservice, die ihn hin und wieder anschreibt und fragt, ob er alles gefunden hat und klarkommt, und er kann sie immer anschreiben, wenn irgendetwas nicht glatt läuft. Das ist auch gut so, denn naja, er ist ja 14.

  4. Was für eine großartige Lösung und wie toll, dass eure Infrastruktur (und engagierte Schule) das möglich machen. Ich wurde mit 5 eingeschult, habe mit 17 Fachabi gemacht und bin mit 19 im Studium gescheitert. Schule war sozial immer blöd, weil alle älter waren, mehr durften und „anders“ (weil älter) waren.
    Einer unserer Söhne wurde auf Drängen des Kindergartens mit knapp 6 eingeschult, hatte aber das Glück, sowohl in Grundschule als auch weiterführender Schule stark gefordert zu werden (Chinesisch und Astronomie z.B. in kleinen Lerngruppen). Das war vor 25 Jahren in einer Kleinstadt schon klasse.
    Für ihn war das die beste (mögliche) Lösung.

    • Ich selber bin auch mit 5 eingeschult worden, und das einzige Mal, dass ich das doof fand, war, als alle dann den Führerschein gemacht haben und ich noch ein Jahr warten durfte. Aber Menschen sind ja sehr unterschiedlich. Mit 5 wollte Ona im Sandkasten sitzen, und dann sollte er das auch machen, fand ich. Ich war absolut bereit für Schule mit 5, er meines Erachtens nicht. Und da bin ich noch immer zufrieden mit, er auch.

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