Ich sitze im Bett, neben mir sitzt mein Kind und versucht mich zu überreden, es doch zur Adoption frei zu geben, es möchte lieber in einem Haushalt mit XBox, PlayStation und Gaming PC leben, und die Herbergsfamilie hat schon zugestimmt. Eventuell bleiben wir einfach beide hier, ich würde ihn ja schon vermissen, und ich bin ja quasi eh naturiert hier.
Wie das gestern passiert ist, möchte ich im Detail gar nicht erklären, mich hat die Situation nach 14 Jahren allerdings deutlich weniger gewundert als die Menschen aus dem Internet, ich kenne das ja bereits. Vor 10 Jahren haben wir alle gemeinsam noch darüber gelacht, dass ich abends ins damals noch gemeinsame Bett ging, Herr H sagte, er wolle noch kurz das Silikon an der Spüle erneuern, und als ich morgens aufstand, war die Küche abgebaut. Abgebaut. Alle Schränke standen im Wohnzimmer und wurden auch sehr sehr lange nicht wieder aufgebaut. Wir können es kurzhalten: Mein Mann ist nicht gut in Projektmanagement, hat ein defizitäres Gefühl für die Dauer von Abläufen und kein Problem, zu spät zu kommen oder etwas Angekündigtes einfach zeitlich nicht zu schaffen. Ich bin der exakte Gegenpol, und in den Jahren seit Übergang von Ehe zu Wohngemeinschaft haben wir das einfach so geregelt, dass wir uns in allen Abläufen voneinander unabhängig gemacht haben. Er darf absolut so sein, wie er möchte, es darf mich nur in keinem einzigen meiner Lebensbereiche in irgendeiner Form betreffen. Wenn wir gemeinsam irgendwo hinfahren, sage ich am Vortag, um welche exakte Uhrzeit ich im Auto sitze und losfahre, um nicht zu spät zu kommen, und dann fahre ich um exakt diese Uhrzeit los, Herr H. schafft es üblicherweise nicht, danebenzusitzen, fährt 20 Minuten später hinterher und kommt zu spät. Das hat den immensen Vorteil, dass mir das dann egal ist. Ich hasse Menschen, die immer zu spät kommen, aber solange ich nicht so ein Mensch werde, weil ich permanent auf Zeitmanagementprofis warten muss, ist ja alles egal.
Ähnlich verhält es sich mit der räumlichen Organisation von Dingen. Auch hier sind wir exakt gegensätzlich positioniert. Ich habe sicherlich ein schon fast krankhaftes Bedürfnis, dass Dinge einen Ort haben, wo sie sind, dass ich diesen Ort kenne und dass ich nie suchen muss. Das liegt teilweise daran, dass ich teils keine gute Wahrnehmung habe, und das bringt mit sich, dass ich Dinge einfach nicht bewusst sehe, wenn ich sie nicht erwarte. Das klingt kompliziert, ist es aber nicht. Ich blende alles mögliche einfach aus und kann dadurch nur sehr schlecht und mit großer Anstrengung Sachen suchen. Und dann ist es halt praktisch, wenn alles immer da ist, wo es hingehört, dann muss ich nicht suchen. Ich möchte auch keinen Mist mehr in meinem Lebensraum haben. Herr H ist da gelinde gesagt etwas laxer. Er wirft niemals etwas weg und räumt niemals etwas auf. Nicht aus Boshaftigkeit, sondern weil er die Notwendigkeit nicht sieht. Wir sind an der Stelle austherapiert, die Psychiaterin sagte, wie Sie wissen, irgendwann den Satz „Wissen Sie, was ich interessant finde? Dass ausgerechnet Sie beide miteinander verheiratet sind.“ Gegensätze ziehen sich nicht an, Gegensätze finden ein System, wenn es gut läuft.
An dieser Stelle lautet das System seit ein paar Jahren, dass wir strikt getrennte Wohnbereiche haben, dass er seinen allerdings in einem minimal geordneten Zustand halten muss, und dass er in gemeinsam genutzten Räumen (Küche) nichts umräumen, abstellen oder systematisch verändern kann. Das klingt jetzt hart, ist aber besprochen und wenn Sie das Foto des Wohnzimmers nach einer Woche meiner Abwesenheit gesehen haben, wissen Sie, dass das eine gute Lösung ist, wenn man nicht bereit ist, so zu leben, und das bin ich nicht, muss ich auch nicht. Der Preis dafür, dass wir nicht auseinandergezogen sind, sondern Familien-WG machen, ist absolute Unterordnung in einem System, das Ordnung und Vernunft als Primat hat. Es macht nämlich auch überhaupt keinen Sinn, 5 Gramm Lauchzwiebel, die übrig geblieben ist, in einer Tupperdose im Kühlschrank aufzuheben. Wenn das eigene Innere das Wegwerfen von Dingen nicht erlaubt, stehen innerhalb weniger Tage 30 Dosen im Kühlschrank, alle nicht durchsichtig, alle nicht beschriftet, und die sind dann so lange da, bis alles komplett verschimmelt ist, das ist ja nicht der Weg. Nach vielen Jahren war meine finale Lösung an der Stelle, sämtliche Aufbewahrungsdosen wegzuwerfen. Ich bin ein Haushalt ohne eine einzige Gefrierdose. Sowieso habe ich über die Jahre alles, worin etwas aufbewahrt werden könnte, entsorgt. Nur in meinem eigenen Raum stehen ein paar Hutschachteln mit Dingen drin, aber ich laufe auch nicht Gefahr, da jetzt von Kleidung über Pflegeprodukte über geöffnete Lebensmittel alles gleichzeitig drin aufzubewahren, weil es ja „ein Aufbewahrungsort“ ist. Mein Mann tut das, in Räumen, die ich benutze, ist das allerdings nicht möglich, daher gibt es keine Aufbewahrungsmöglichkeiten und er darf nichts abstellen. Und nein, das ist nicht übertrieben und er ist nicht „ein bisschen unordentlich“. Das hat seine völlige Berechtigung, sonst würden wir alle gemeinsam nach spätestens vier Wochen untergehen.
Was ihm da gestern wohl passiert ist, mag nicht böse gemeint gewesen sein, daher wählte ich direkte Wiederabreise und nicht Detonation, aber es zeigt, dass mein System leider nur funktioniert, solange ich mit in der Wohnung bin. Unsere Verabredung, meine privaten Bereiche nicht zu betreten, muss offensichtlich noch einmal nachbesprochen werden, einen ganzen Raum abzubauen ist nämlich eine Teilmenge von betreten und daher auch nicht in meinem Sinne. Und für längere Abwesenheiten meiner Person werden wir für die zwischenzeitliche Raumnutzung ein neues System finden müssen. Ich werde nie mehr auf dem Zahnfleisch nach Hause kommen, um eine komplett abgebaute und verwüstete Wohnung vorzufinden. Soviel ist klar.
Und jetzt arbeite ich gleich was, Kundentermin heute aus dem fremden Bett ohne Bild, heute abend ist Karaoke, und vielleicht ist meine Wohnung irgendwann wiederhergestellt. Erst mache ich allerdings ein Stündchen vorgezogenen Mittagsschlaf. Ich habe keine Ahnung, wie ich meine Batterien jemals wieder vollkriegen soll. Aber vielleicht ist das die Story of my life. Die hysterische Suche nach weniger Anstrengung und Druck, die furchtbar anstrengend und bedrückend ist.