Bis gerade eben dachte ich, heute sei der allerschlimmste Tag meines Lebens, aber ist er gar nicht, und das kam so.
2021 guckte meine Mutter Fernseh, was mit 82 eine der Hauptbeschäftigungen ist, denn „was hab ich denn sonst noch“, also Kinder, einen Bandleader als Spielgefährten, ein swingenderes Erotikleben als Sie, ja, Sie meine ich, und die Familie mit dem liebreizenden Teenager auf Rollatorendistanz, also nicht, dass sie sonst nix hat, aber anscheinend hat man auch mit 82 noch große Erwartungen. Jedenfalls sah sie fern, dann sah sie einen Mitschnitt von dem Programm „Mehr Nutten, mehr Koks“ von Mary Roos und noch so einem, und weil sie ja damals ein riesiger Mary Roos Fan war, erzählte sie Weihnachten 2021 abwechselnd vom Hasen, dass ihr der Rücken weh tut, und wie toll sie das lustige Programm von Mary Roos und dem einen fand. Meine Schwestern und ich beschlossen also, ihr zwei Karten zu schenken, weil wir eigentlich gerne mit ihr zusammen Dinge machen, allerdings sahen wir uns nicht für teuer Geld zu Mary Roos gehen, das sollte besser der Hase machen, und ich bestellte zwei Karten. Düsseldorf war ausverkauft, Duisburg im Mai 2022 war noch verfügbar. Die Karten wurden zu mir nach Hause geschickt, ich identifizierte den Umschlag als „Karten für Oma“ und legte ihn auf *den Stapel*.
Irgendwann kurz vor Mai 2022 kam eine Email, die Vorstellung würde verschoben auf März 2023. Wie ich seit gerade weiß, ist sie schon fünfmal verschoben worden. Ich schrieb meinen Schwestern, es gab Augenroll-Emojis, dann kam meine Mutter, ich erzählte ihr von der Verschiebung, dann musste sie weinen und sagte: „Bis dahin bin ich doch tot!“
Nun muss man wissen, dass wir das nicht für sehr wahrscheinlich hielten, nichts deutet darauf hin, dass das in nächster Zeit stattfinden würde. Andererseits sterben all ihre Weggefährt:innen ja ringsum, und wie es scheint, hat meine Mutter einfach das Gefühl, es sei jetzt mal Zeit. Neulich erzählte sie mir, dass sie denkt, dass es bald soweit sei, und als ich fragte warum, sagte sie: „Guck mal, was ich in letzter Zeit alles hatte.“ Ja, stimmt. Hand gebrochen, Bein gebrochen, Fuß gebrochen, zwei Rippen gebrochen, dann wieder verheilt und noch mal zwei Rippen gebrochen, und natürlich Corona. Ich bin zwar erst 46, aber das gehe ich mit. Nun hat meine Mutter natürlich nie Handball gespielt, aber ich käme ja nie auf die Idee, dass ich nach wirklich vielen Brüchen jetzt, egal, Sie wissen, was ich meine.
Jedenfalls ist ja jetzt übermorgen März, und gestern war sie zur Geburtstagsfeier hier, da sagte sie zum ersten Mal: „Wann ist denn eigentlich genau die Aufführung von Mary Roos? Ich freu mich ja schon so, ich hab ja sonst nichts mehr.“ Heute kam sie mit dem Rollator vorbei, Kuchenformen abholen und mal nach Mary Roos fragen, sie hat ja sonst nix mehr.
Und dann musste ich heute um 13 Uhr einen Brief von der Krankenkasse finden, und das sah ich als Chance, die diversen Stapel des Grauens wegzuräumen. Und da ich ja genau wusste, wo Mary Roos Karten liegen, und weil ich zudem ja die neuen Regale im Büro habe und Ordner gekauft hatte, um ein sehr nerdiges aber gutes Ablagesystem (welches ich im Büro schon hatte, aber Büro-Ich und Privat-Ich sind offenbar zwei völlig unterschiedliche Menschen) zu implementieren, ich spule vor:
Um 17 Uhr hatte ich die Karten noch nicht gefunden, in dem Stapel des Grauens, in dem ich sie vermutete, waren sie nicht. Also schrieb ich den Ticket-Aussteller an, ob er neue schicken könnte, ich hatte ja alles brav digital. Nachdem ich jedoch mein Anliegen formuliert und eine automatisierte Antwort erhalten hatte, recherchierte ich kurz selbst auf der Seite und stellte fest, dass verlorene Tickets Pech seien. Also nahm ich einen weiteren Stapel des Grauens, ordnete und heftete ab, fand einen intrapandemischen Eventgutschein von Frau N, der mich sehr erfreute, weil sie so vehement just gestern einen intrapandemischen Eventgutschein von mir einforderte, und suchte weiter. Keine Karten. Um 19 Uhr kam ich zu dem Entschluss, dass jetzt, also an dem Punkt, wo alle Stapel des Grauens, die ich kenne, sortiert und abgeheftet sind, ein Plan B hermuss. Denn eine Sache war völlig klar: Wenn man 82 ist und über ein Jahr auf eine Veranstaltung wartet, weil man seit 60 Jahren Fan ist, ist das einzige Ziel, das man im Leben hat, noch diese Vorstellung zu sehen. Ich glaube, wäre meine Mutter bei dem Unfall neulich noch schwerer verletzt gewesen, hätte sie am Sterbebett gesagt: „Aber ich wollte doch noch zu Mary Roos“. Keine Karten war also absolut keine Option, also riet Herr H, dessen Ordnung noch deutlich schlechter ist als meine, doch einfach neue Karten zu kaufen. Also recherchierte ich, und nein, alles war ausverkauft, auf einem Halsabschneiderportal gab es noch zwei, 395 Euro PRO STÜCK. Ich suchte weiter.
20.43 Uhr fand ich im letzten möglichen Stapel die Karten. Ich war gerettet. Verschoben auf den 9. März, den für dem 20.5.2022 geplanten Shuttleservice meiner Schwester habe ich per Bauchgefühl vormoderiert, lud Herrn H für den 9.3.2022 in Duisburg zum Essen ein, und jetzt fahren wir die Senioren zu Mary Roos. Und jetzt sind alle glücklich. Ich habe derzeit noch Probleme, mich zu freuen, weil ich noch so ein apokalyptisches Versagensgefühl in mir trage, es ist aber wirklich sehr angenehm, wenn ich kurz Panik bekomme und dann denken kann: „Ich habe sie gefunden, es ist alles gut.“
Stapel des Grauens?
Ja, die kenne ich. Da gibt es noch einen Ballonfahrgutschein, eine Thaimassage und ein Event, Zauberzeugs und so, mit Essen. Das möchte ich alles nicht finden.
Mein geniales Ablagesystem von vor vielen Jahren ist an den Rändern ausgefranst und nur noch ein Schatten seiner selbst.
Ich halluziniere einen großen Container in der Auffahrt, den ich bei offenem Fenster treffen kann, mit Mappen und Ordnern.
Gestern meldete sich die Verwaltung, sie erwarte noch Unterlagen von mir. Ja, die erwarte ich auch.
Ja, den Stapel hab ich auch. In dem man manchmal ungelöste Checks findet, GsD bekommt man einen Ersatz check, der aber dann unbedingt auf die Bank muss. Ansonsten, wenn man ihn lang genug ohne ihn anzufassen liegen lässt, erledigt sich manches von selbst.
Panische Suche nach Papieren, die man darin vermutet, kenne ich auch.
Die Stapel des Grauens scheinen so eine Art Epedemie, wenn nicht sogar Pandemie, zu sein.
Eher ein Naturgesetz. Oder gibt es wirklich Leute, die keine haben?