08.04.2022

Heute ganz überraschendes Frühblogging, aber ich musste soeben den Friseurtermin wieder absagen, ich habe noch ein paar Tage Zeit, und heute kam es wirklich schlecht aus, ich möchte nämlich noch ein bisschen was arbeiten und müsste vor dem Verlassen des Hauses den alten Nagellack mindestens abmachen, dann würde ich aber vermutlich neuen wieder draufmachen wollen, und dafür ist ja keine Zeit, wenn ich noch ein bisschen was arbeiten möchte. Nun gehe ich also am Mittwoch, und ich das passt hervorragend zur Deadline Mittwoch mittags und der Gesamtsituation.

Gestern fuhr ich ja lange Zug und hörte dabei den ein oder anderen Podcast. Mit dabei das Scholz Update, welches ich üblicherweise für die Gäste höre, um es vorsichtig zu formulieren. Gestern hörte ich die neueste Folge mit Stephan Lamby, und da sitzt man so im ICE und rast mit 300 km/h durch die Republik, und plötzlich zuckt man zusammen und hält sich reflexartig die Hand vor den Mund, weil jemand im Kopfhörer sagt: „Wir werden jetzt in eine Phase übergehen, in der von uns als Gesellschaft viel abverlangt werden wird“ oder ähnlich, ich bin mir nicht sicher, ob die Tempora richtig sind, kann das aber damit ausgleichen, dass ich weiß, das der Plural von Tempus Tempora ist.

Ich weiß ja nicht, wie Sie das sehen, aber ich hatte schon hin und wieder das Gefühl, dass von uns als Gesellschaft in den letzten zwei Jahren Einiges abverlangt wurde. Ich sag’s mal so: Ich bin ja ein kulturell und partysozial sehr interessierter Mensch, und dass ich irgendwann in irgendeinem langweiligen Museum stehe und vor Aufregung Wogen der Lust mich ergreifen – das mag ein Zeichen dafür sein, dass dem Moment eine Phase des Darbens vorausgegangen war. Oder dass ich draußen im Regen auf einer Tribüne vorm Schauspielhaus sitze und denke, dass das das Wagemutigste ist, was ich seit langem gemacht habe UND DANN NOCH MIT DEM KIND MITTEN IN DER GEFAHRENZONE, dann weiß man, dass die Definition von Wagemut sich stark verschoben hat. Gestern saß ich jahrelang im Zug, brav mit Maske, Nase sogar drin, und heute habe ich gelernt, dass man mehrere Pushwarnungen von der Corona Warnapp für den gleichen Tag bekommen kann, das wusste ich noch nicht, ich dachte, es wird nur für den Tag gewarnt, egal, was wollte ich sagen? Ach ja. Ich habe einen Schluck getrunken und eine FFP2 Maske getragen. So wagemutig bin ich geworden, das wäre mir in den 12 Monaten davor auch nicht passiert. Oder der Ball mit Frau N letzten Samstag. Gab natürlich auch eine Warnung, und auch da: Living on the edge. Dass wir uns *das* getraut haben. Long story short: Ich bin die totale Pussy geworden, und das, wo ich doch immer so bemüht bin, sehr mutig zu sein. Auch hier würde ich sagen: Eine so tiefgreifende Wesensänderung passiert eher nicht, wenn man nicht durch eine Phase gegangen ist, die das ein oder andere von der Person abverlangt hat. Aber gut. Mal gucken, was jetzt kommt. Wir sparen schon mal Energie wo wir können, ich kann viel, stellte ich fest, aber beim warmen Wasser verläuft meine Schmerzgrenze. Ich brauche ständig warmes Wasser.

Wir haben aber auch sehr viel zurückgekriegt in den letzten Jahren. Ich erinnere mich noch, wie schön ich es fand, als Melanie Brinkmann der Nation exponentielles Wachstum anhand von Wassertropfen im Fußballstadion erklärt hat. Das fand ich schön, ich lebe gerne in einer Welt, in der alle Menschen verstanden haben, was exponentielles Wachstum mathematisch ist. Schlecht fand ich, dass ganz große Teile der deutschen Bevölkerung plötzlich die Mechanismus verschiedener Impfstofftypen erklären und bewerten konnte, das ist nämlich vollkommen unnützes Wissen. Auch ist noch nicht geklärt, ob man dieses Wissen später weiter anwenden muss. Ona kriegt bald seine HPV Impfung. Muss ich vorher den Kinderarzt fragen, was für ein Impfstoff das ist? Nicht, dass mir das wichtig wäre, aber dennoch. Ich möchte aber auch nicht wie eine uninteressierte Mutter wirken. Und Dilemmatas. In so einem Dilemmata befinde ich mich ja, seit bei Kriegsausbruch Baerbock in einem Statement von einem Dilemma sprach, irgendjemand griff das anschließend auf und verwendete den korrekten Plural, und jetzt ist dieses Wort komplett außer Kontrolle. Ich sage übrigens in solchen Punkten häufig einfach den naheliegenderen Plural. Als junge Doktorandin stand ich mal bei Ikea, hatte gerade eine Magisterarbeit über Korpuslinguistik geschrieben, wollte einen Schrank kaufen und fragte einen freundlichen Mitarbeiter: „Haben Sie die Korpora auch in weiß“, und dann wurde es für einen Moment ganz kurz ganz kalt im Raum und er sagte: „Ja, die Korpen haben wir auch in weiß.“ Heute morgen sah ich ein halbstündiges Interview mit einem Bundeswehrgeneral, der etwas über taktische militärische Angriffszüge referierte, und ich lauschte, dachte mir, dass ich niemals gedacht hätte, dass das jemals meine Interessensschwelle knackt, aber gut. Wenn die anderen Leute jetzt wissen, was exponentielles Wachstum ist, dann kann ich auch wissen, wie Stellungskrieg geht. Why not.