Herzregen im Urlaub – Teil 9 CN – Unfall

Wir sitzen im vorletzten Zug, Frau N sogar schon im letzten, und zwar in einem Traumaabteil, das ist so ein Vierer mit Tisch in der 1. Klasse mit Wänden drum. Frau N war kurz begeisterter von der Idee, sich irgendwo anders hinzusetzen, aber bei näherem Hinsehen sitzen wir hier sehr gut.

Dazu muss man wissen: Uns ist klar, dass uns selber rein gar nichts passiert ist, also bis auf massive Verspätung der Reise, aber die Fahrt auf dem Abschnitt Prag – Schwandorf hat uns sehr aus der Kurve geworfen, wir müssen manchmal noch weinen als Stressreaktion. Wir fuhren irgendwo hinter Pilsen durch die Pampa, irgendwann hupte der Zug erst mit einem, dann mit zwei verschiedenen Tönen, gleichzeitig gab es eine Vollbremsung, alles flog rum, aber wenn ich alles sage, meine ich Dinge wie Brötchen und Colaflaschen, die Koffer hatten wir entgegen unserer Gewohnheit beide auf der einen Seite des Abteils oben auf dem Gitter abgelegt, und das war sehr gut, sonst wären die nämlich runtergekommen und dann hätten wir mal gucken können, was so ein Knödelkörper aushält, und dann dauerte es gefühlt ewig. Vielleicht waren es 30 Sekunden, es war absurd lang, Hupen und Bremsen, und dann standen wir. Dann passierte etwas länger nichts, ich bin schon mal über eine Schafherde im ICE gefahren, das hatte geruckelt, wir hatten nichts ruckeln gefühlt, dann rannten sehr aufgebrachte Schaffnerinnen an uns vorbei, dann standen wir weiter, es dauerte ewig lange, dann kam eine Durchsage mit wirklich gebrochener Stimme, auf Tschechisch. Dann passierte minutenlang nichts. Frau N ging aufs Klo, in der Zeit kam eine Durchsage in gebrochenem Deutsch, dass wir kollidiert seien und dass wir bitte im Abteil bleiben sollten, und dass wir eventuell in den nächsten Stunden evakuiert werden würden.

Ich war zu dem Zeitpunkt bereits weniger gelassen als Frau N, die das wahrnahm und davon ausging, dass es sich um Tiere handeln würde. Dann kam das erste Einsatzfahrzeug mit Sirene, dann das zweite, dann das dritte, dann das vierte und ich gab zu bedenken, dass die Schafherde keinen Großeinsatz nach sich zog. Wir dachten nicht zuende, dass wir in dem Wagen vorne saßen, und auch als ich sah, dass eine offensichtliche Anwohnerin die Böschung neben unserem Fenster runterkletterte und den Bereich unter unseren Füßen filmte, sprachen wir es nicht aus, ich habe an dem Punkt allerdings dann die Fassung leicht verloren. Schweißausbruch, Übelkeit, leichte Atemnot, und natürlich der Wunsch, die Vorhänge zu schließen, was wir strategisch dann auch irgendwann machten. Interessant an der Stelle: Wir haben schon mehrfach Situationen erlebt, die dazu führten, dass wir so körperlich die Fassung verlieren, jedoch nie gleichzeitig.

Irgendwann liefen Polizei und Feuerwehr durch den Zug, viele öffneten unsere Türe und sprachen uns an, es dauerte viele Leute lang, bis jemand Englisch sprach. Leider hätte es eine Kollision mit Männern (Plural) gegeben. Ob wir etwas gesehen hätten, die Leichen oder den Sack. Nein, hatten wir nicht, da haben wir gut für gesorgt, und als sie wieder ging, hatte ich gar nichts verstanden und Frau N alles, da wir vorne saßen, hätten wir mit etwas gutem Willen vielleicht etwas sehen können, und dann hätte man uns vielleicht anders betreut. So betreute mich Frau N, versorgte mich mit Wasser, besorgte mir einen Schokoriegel, den ich nicht essen wollte, da mir sehr schlecht war und der Gedanke, mich vor ein Zugklo zu knien und mich zu übergeben, die Situation nicht besser gemacht hätte. Irgendwann trat ich Frau N aus Versehen vors Knie, und als sie nicht reflexartig zurücktrat, sondern liebevoll sagte „Macht gar nichts“ wusste ich, wie mitgenommen ich wirkte.

Der ganz große Gamechanger war übrigens, dass uns über Trööt, wie wir es liebevoll nennen, Herr Ichichich den Zeitungsartikel zum Geschehen irgendwann schickte, den Excellensa uns fix übersetzte, und dann wussten wir irgendwie mehr, zumindest, dass wir nicht mit einer Gruppe spielender Kinder kollidiert waren, sondern mit einem Mann, und der hätte sehr viel Bremsen und Hupen Zeit gehabt, vom Gleis zu gehen. Vielleicht wollte er das nicht. Ich hörte irgendwann das erratische Heulen auf und dann war alles besser. Danke euch.

Wir fuhren nach etwa 2 Stunden, mein Zeitgefühl war schlecht heute, ein bisschen rückwärts, natürlich mit geschlossenen Vorhängen, dann standen wir in irgendeinem Bahnhof, und dann fuhren wir wieder vorwärts, wieder mit geschlossenen Vorhängen, wir wollten NICHTS davon sehen.

Was Frau N dann umgehauen hat, war die Überquerung der deutschen Grenze mit Personalwechsel. Die Schaffnerin kam in unser Abteil, entschuldigte sich für die Verspätung, es habe auf der Strecke einen Personenschaden gegeben, und wir sagten, dass wir das wüssten, es wäre unter uns gewesen. Es dauerte kurz, ich kriege die Situation auch nicht mehr zusammen, aber irgendwann war klar, dass ihnen nicht gesagt worden war, dass es sich um diesen Zug handelte. Die Schaffnerin verlor die Contenance, fragte uns nach Dingen, unter anderem, ob der Zug gereinigt worden sei, und verlor dann noch mehr die Contenance und rief den Zugführer (meine Hypothese) an. Sie sagte mehrfach, also öfter, als ein Mensch mit Fassung es tun würde „Hör mir gut zu! Die PU. Das war DIESER Zug. Nein. Das war DIESER Zug. Und die Passagiere sitzen hier noch. Ja. Nein. Sie haben ihn nicht gereinigt. Gib das sofort durch. Er muss innen und außen gereinigt werden. Innen und außen.“ Ich sah, dass Frau N eine nasse Stirn kriegte und grünlich wurde. Bei manchen Menschen setzt der Schock zeitverzögert ein. Und dann sprachen wir noch kurz, also ich mit der Schaffnerin, ich weiß nicht mehr, worüber, sie sagte, wir müssten im Abteil keine Maske mehr tragen, wenn sie vorbeikommt (sie trug selber schon länger keine mehr, das kriegte sie aber nicht mehr sortiert, sie war sehr angefasst), und dann ging sie, Frau N legte die Beine hoch wegen Schock, und so fuhren wir nach Schwandorf. Jetzt sitzen wir uns gegenüber im ICE und schreiben das beide auf. Zudem haben wir verabredet, dass wir das jetzt hinter uns lassen, und sollte das nicht der Fall sein, dass wir uns anrufen. Und wir haben uns den Zug noch vom anderen Gleis angesehen. Ich wollte nicht, habe mich extra mit dem Rücken dazu hingestellt, aber sie sagte, dass wir sonst davon träumen, also haben wir geguckt. Man sah nichts, das hatte ich auch nicht angenommen. Also war das vermutlich gut so.

Wir sind uns derzeit noch uneinig. Ich hätte im Leben nicht erwartet, dass wir beide auf so eine Situation mit Schock reagieren. Ich hätte gedacht, wir seien misanthrop genug, dass wir damit gut umgehen können. Meine Theorie war: Ich bin erst so richtig gekippt, als ich auf beiden Seiten durch die Fenster die Menschen und ihre Reaktionen sah. Die Frau, die klettert, um ein Video von der Person oder was auch immer sich unter unseren Füßen befand, macht. Der Mann, der auf der anderen Seite steht und isst, während er der Bergung zusieht, was Frau N noch lange davon überzeugte, dass es sich nicht um einen Menschen handeln kann. In Kombination mit dem unguten Gefühl, dass niemand an Bord uns sagen kann, was ist, da alle, die es versuchen, unsere Sprache nicht sprechen. Das war sehr schlecht. Frau N ist so gekippt, weil es offensichtlich für die Schaffnerin absolut schrecklich war, das zu erfahren, nicht zu vergessen, dass laut Zeitungsartikel 99 Passagiere an Bord waren, die eventuell alle so durch den Wind waren, wie wir, und die sie einfach übernommen haben, vollkommen unvorbereitet. Am wirklich allerschrecklichsten fand ich jedoch die viel zu lange Zeit Hupen und Bremsen, als der Lokführer wusste, was passiert, und dass er das nicht abwenden kann. Er hat so lange gehupt und gebremst. Wie furchtbar.

Und jetzt hoffe ich, dass ich wirklich so ein Mensch bin, der mit Schreiben viel lösen kann. Das war hier ähnlich therapeutisch, wie die warme Flasche Rotkäppchen halbtrocken, von der Frau N sagte, es sei okay, das ist Medizin. Und jetzt will ich nach Hause.

17 Gedanken zu „Herzregen im Urlaub – Teil 9 CN – Unfall“

  1. Ich würde auf die Entfernung Händchenhalten anbieten oder so. Tatsächlich hab ich sowas schon zweimal erlebt, einmal innerhalb Berlins und einmal auf dem Weg nach Bayern, wo ich den Mitreisenden mit Händen und Füßen übersetzt habe, warum der Zug jetzt steht und was denn nun passiert ist. Es ist nicht schön.

  2. Wie schrecklich! Es tut mir so leid für Euch, und für den Menschen, der nicht mehr lebt.
    Ich glaube auch, dass schreiben hilft.

  3. … was für ein entsetzliches Erlebnis, wie gut, dass Sie beide nicht alleine waren. Gutes Ankommen zuhause.

  4. Du liebe Güte! Gute und sichere Heimreise Ihnen Beiden. Gute Verarbeitung, Schreiben hilft. Mastodon hat geholfen, Ihre TL hat geholfen. Bon courage.

  5. Das klingt so unendlich furchtbar, ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man sich in so einer Situation fühlen muss 🙁

    Mir tut auch der Zugfahrer endlos leid, wie schrecklich muss das erst für ihn gewesen sein 🙁

    Mögen Sie die Sache gut verarbeiten, möglichst ohne bleibendes Trauma.

  6. Es tut mir so leid, dass ihr beide das erleben musstet. Zum Glück hattet ihr euch!!

    Schreiben hilft ganz sicher. Und warmes Hundefell zuhause!

    Wenn weiter reden helfen könnte: ich hab ohne Job derzeit viel Zeit für eine Goldie-Labbi-Runde. Melde dich einfach!

  7. Ich war vor vielen Jahren auch mal in einem Zug, als ein solcher Unfall oder Suizid passierte. Es war schrecklich. Wir blieben lange auf offener Strecke stehen, nach ca. 20 min kam eine Durchsage, ob Ärzte oder Krankenschwestern im Zug seien. Das hat mich sehr verwirrt, bis mir später jemand erklärte, dass der Aufruf wahrscheinlich so spät kam, weil draußen die Helfenden umgekippt sind.
    Es dauerte dann noch lange, lange, lange bis klar war, dass wir den Zug auf offener Strecke räumen müssen. Es ist nicht einfach einen Zug auf freier Strecke zu verlassen, mit Gepäck schon gar nicht und mit Bewegungseinschränkungen auch nicht. Ich hatte kein Gepäck dabei und konnte anderen beim Aussteigen helfen (heute würde ich wohl schon fast selbst Hilfe brauchen) Das Personal war absolut nicht mehr ansprechbar.
    Und das Laufen auf Gleisen auf freier Strecke hätte ich mir im Leben nicht so anstrengend vorgestellt, wie es dann war.

    Es war absolut schlimm und unvergesslich.

    Das musste jetzt raus.

    Ich fühle mit euch.

  8. Es tut mir sehr leid, dass Sie so etwas erleben mussten, wie schnell doch dieser eine kleine Augenblick sehr viel verändert. Viel Kraft für die Verarbeitung, geben und nehmen Sie sich Zeit.
    .

  9. Wie entsetzlich. Ich erwischte mich unlängst dabei, ein Plakat in der Hamburger U-Bahn zu studieren, auf dem FahrerInnen für Busse und Bahnen gesucht werden. Und mein erster Gedanke war: Lieber Bahn als Bus, im Bus hast du nur Bekloppte, dann die Ansteckungsgefahr, weil natürlich niemand Maske trägt, nein, nein, lieber BahnfahrerIn. Da sitzt du chefmäßig vorne drin und musst keinen sehen, dein Kabuff ist abgetrennt von den Paxen und du kannst schön Hörbücher hören, das ganze quasi als bezahlte Meditation sehen. Okay, die Strecken werden natürlich sehr bald recht eintönig sein, besonders im Tunnel, und dann erinnerte ich mich daran, wie ungemein häufig in Relation zu den gefahrenen Tagen ich im vergangenen Jahr in Altona zwangsweise stand, weil es einen Personenschaden gegeben hatte, die Weiterfahrt verzögert sich, wir danken für Ihr Verständnis. Und ich dachte darüber nach, wie hart die Zeiten sind und wieviel härter sie bald noch werden, und dass sich diese Zwangsunterbrechungen der Fahrt sehr wahrscheinlich häufen werden, und dass vielleicht BusfahrerIn zu sein doch vielleicht etwas entspannter sein mag. Was man halt so denkt, wenn man auf die Bahn wartet.

  10. Du kennst eine Person, die als SAT (special assistance team) Member ausgebildet ist. Diese spezielle Assistenz wird zu genau solchen Situationen (Unfälle) gerufen, um die Leute dort zu betreuen. Leider habe ich das viel zu spät alles gelesen. Nächstes Mal ruft Ihr mich an. Vielleicht bin ich nicht daheim aber einen Versuch ist es allemal wert.

  11. Mir ist das heute auch passiert. Der Zug in dem ich saß hat einen Menschen überfahren. Ich vergesse das Geräusch nicht. Und das Aufprallen unter dem Boden. Es ist ein Schock. Den Bericht lesen tut mir gut, ich fühle mich auf ne Art „verstanden“. Aber ich bin noch krass schreckhaft. Weinen wär evtl. ganz gut gewesen. Aber so öffentlich im Zug konnte ich nicht. Habt ihr das Erlebte inzwischen verarbeitet?

    • Das tut mir sehr leid. Und ja. Ich glaube, dass ich drei Tage lang sehr damit beschäftigt war, danach war es gut. Aber das Hupen und Bremsen ist mir noch sehr präsent, und die Frage des armen Lokführers. Ich hoffe, Sie kommen auch gut drüber weg.

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